I. Einleitung
Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch ist ein zentraler, aber oft übersehener Baustein des Verwaltungs- und Staatshaftungsrechts. Er dient dem Schutz der Bürger vor drohenden oder wiederholten rechtswidrigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt. Während der Abwehranspruch auf die Beendigung eines aktuell bestehenden Eingriffs zielt und der Folgenbeseitigungsanspruch die Beseitigung bereits eingetretener rechtswidriger Folgen verlangt, verfolgt der Unterlassungsanspruch das Ziel, rechtswidriges Verwaltungshandeln von vornherein zu verhindern.
Dogmatisch ist der Anspruch nicht gesetzlich normiert, jedoch lange gewohnheitsrechtlich anerkannt und in der Rechtsprechung wie auch im Schrifttum fest etabliert. Er wurzelt in den Grundrechten, dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG sowie im Rechtsgedanken der §§ 1004 und 862 BGB. Diese Parallelen zum Privatrecht spiegeln sich auch in seinem Aufbau wider: Wie § 1004 BGB schützt der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch den Einzelnen davor, dass ein Eingriff überhaupt eintritt oder sich wiederholt.
In der Klausur tritt der Anspruch meist als Hilfsanspruch innerhalb einer verwaltungsgerichtlichen Leistungsklage auf, häufig im Zusammenhang mit Realakten (z. B. Lärm, Äußerungen von Amtsträgern, Videoüberwachung). Es erfordert daher sowohl dogmatische Präzision als auch ein sicheres Gespür für die Abgrenzung zu verwandten Anspruchsarten.
II. Herleitung des Anspruchs
Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, jedoch seit Langem in Rechtsprechung und Lehre anerkannt. Seine dogmatische Herleitung ist umstritten.
Problem
Herleitung des öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs
E.A.: Ein Teil der Literatur sieht die Wurzeln des Anspruchs im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG. Dieses verpflichtet die Verwaltung, nur auf Grundlage von Recht und Gesetz zu handeln, und gewährleistet damit zugleich die Achtung individueller Rechtspositionen. Zwar handelt es sich bei Art. 20 Abs. 3 GG um einen objektiven Verfassungsgrundsatz, der für sich genommen keinen individuellen Anspruch begründet, doch kann er als tragfähiges Fundament für die Anerkennung eines solchen Unterlassungsanspruchs dienen.
A.A.: Eine weitere Herleitung stützt sich auf die Abwehrfunktion der Grundrechte. Als subjektive Abwehrrechte richten sie sich gegen den Staat und schützen den Einzelnen davor, durch hoheitliches Handeln in seine grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre eingegriffen zu werden. Aus dieser Schutzrichtung lässt sich folgern, dass der Bürger nicht nur die Beendigung eines Eingriffs verlangen, sondern auch einen bevorstehenden oder wiederholten Eingriff von vornherein abwehren kann.
A.A.: Daneben wird auf die Rechtsgedanken der §§ 1004, 12 und 862 BGB verwiesen. Diese Vorschriften zeigen, dass auch im Zivilrecht Abwehr- und Unterlassungspositionen gegen unberechtigte Eingriffe in geschützte Güter vorgesehen sind. Aufgrund der strukturellen Parallelen zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Eingriffslage wird der Unterlassungsanspruch daher als öffentlich-rechtliches Gegenstück zu § 1004 BGB verstanden.
Ergebnis: Letztlich hat sich in Rechtsprechung und herrschender Lehre die Auffassung durchgesetzt, dass der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch gewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Damit wird die Notwendigkeit einer abschließenden Streitentscheidung über seine dogmatische Herleitung entbehrlich.
Klausurtipp
In der Klausur genügt eine knappe Darstellung der verschiedenen Ansätze, mit einem Hinweis auf die gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Anspruchs und seiner Voraussetzungen. Eine ausufernde Streitentscheidung ist weder erforderlich noch zielführend.
III. Voraussetzungen
Im nächsten Schritt soll es um die Voraussetzungen des Anspruchs gehen.
Wie im Zivilrecht bei § 1004 BGB setzt auch der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch eine rechtswidrige Beeinträchtigung subjektiv-öffentlicher Rechte voraus. Sein Aufbau orientiert sich dabei an einem vierstufigen Prüfungsschema: Hoheitliches Handeln, Eingriff in ein subjektiv-öffentliches Recht, Gefahr der Wiederholung oder Erstbegehung sowie Rechtswidrigkeit beziehungsweise fehlende Duldungspflicht.

1. Hoheitliches Handeln
Zunächst muss von einem Träger öffentlicher Gewalt eine Beeinträchtigung drohen oder wiederholt ausgehen. Erforderlich ist also ein Verhalten, das in Ausübung öffentlicher Aufgaben erfolgt und damit dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist.
Gerade bei Realakten ist die Abgrenzung zwischen hoheitlichem und privatrechtlichem Handeln entscheidend. Maßgeblich ist der Zweck und Sachzusammenhang der Handlung. Steht sie im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Aufgabenwahrnehmung und gibt es keine Anhaltspunkte für eine privatrechtliche Gestaltung, ist von hoheitlichem Handeln auszugehen. Ist der öffentlich-rechtliche Charakter offensichtlich, genügt in der Klausur ein knapper Hinweis.
2. Eingriff in ein subjektiv-öffentliches Recht
Weiterhin muss ein subjektiv-öffentliches Recht des Betroffenen betroffen oder bedroht sein. Bezugspunkt ist dabei häufig ein Grundrecht, das den Einzelnen in einer bestimmten Freiheitssphäre gegenüber dem Staat schützt, etwa Art. 2 II 1 GG (körperliche Unversehrtheit), Art. 14 GG (Eigentum) oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG.
Der Prüfungsaufbau entspricht der gewohnten Grundrechtsdogmatik:
Zunächst wird der Schutzbereich des jeweiligen Rechts bestimmt, anschließend geprüft, ob das staatliche Verhalten einen Eingriff in diesen Schutzbereich darstellt. Dabei genügt der moderne Eingriffsbegriff, wonach jede hoheitliche Maßnahme, die dem Staat zurechenbar ist und grundrechtliche Gewährleistungen verkürzt, einen Eingriff darstellen kann, unabhängig davon, ob sie in Form eines Verwaltungsakts oder durch schlichtes Realhandeln erfolgt.
Merke
Vergleiche auch die entsprechenden Ausführungen zum Folgenbeseitigungsanspruch.
3. Unmittelbar bevorstehender Eingriff / Wiederholungsgefahr
Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch zielt auf die Verhinderung zukünftiger Eingriffe. Er greift also nicht erst, wenn der Eingriff bereits stattgefunden hat (wie beim Abwehr- oder Folgenbeseitigungsanspruch), sondern auch wenn dieser konkret droht oder erneut zu erwarten ist:
Eine Erstbegehungsgefahr liegt vor, wenn objektiv erkennbare Umstände auf ein unmittelbar bevorstehendes hoheitliches Handeln schließen lassen. Bloße Befürchtungen genügen nicht, erforderlich sind konkrete Anhaltspunkte, dass der Staat tatsächlich tätig werden wird.
Eine Wiederholungsgefahr ist zu bejahen, wenn bereits ein rechtswidriger Eingriff stattgefunden hat. Aus einer solchen Vorhandlung wird regelmäßig auf die Gefahr geschlossen, dass sich der Eingriff unter im Wesentlichen gleichen Umständen erneut verwirklichen wird. Diese Vermutung kann nur durch eindeutige gegenteilige Umstände widerlegt werden.
4. Rechtswidrigkeit / Keine Duldungspflicht
Schließlich muss das bevorstehende hoheitliche Handeln rechtswidrig sein.
Der Unterlassungsanspruch greift also nicht, wenn der Bürger den Eingriff rechtlich zu dulden hat. Maßgeblich ist, ob die drohende Maßnahme im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben steht oder ob sie in unzulässiger Weise in geschützte Rechte eingreift.
Bei der Frage, wann eine Duldungspflicht besteht, kann auf die Wertungen des § 3 I BImSchG und des § 906 I BGB zurückgegriffen werden. Danach ist entscheidend, ob die Beeinträchtigung erheblich beziehungsweise wesentlich ist und damit die Zumutbarkeitsschwelle überschreitet. Diese Schwelle wird anhand einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls bestimmt. Maßgebliche Kriterien sind insbesondere Art, Intensität, Häufigkeit und Dauer der Einwirkung sowie die Einhaltung gesetzlicher Grenzwerte (z. B. TA-Luft, TA-Lärm).
Gesetzliche Vorgaben können hierbei wichtige Indizien für die Zumutbarkeit sein, ersetzen aber nicht die erforderliche Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen dem Betroffenen und dem handelnden Hoheitsträger.
IV. Rechtsfolge
Sind die Voraussetzungen des öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs erfüllt, kann der Betroffene vom Hoheitsträger verlangen, dass der bevorstehende oder erneute rechtswidrige Eingriff unterbleibt.
Die Rechtsfolge ist damit ein Unterlassen hoheitlichen Handelns. Der Anspruch ist auf ein bloßes Nichtstun gerichtet, also darauf, dass die Verwaltung eine bestimmte, den Betroffenen rechtswidrig beeinträchtigende Handlung nicht vornimmt. Ein aktives Tun, etwa der Erlass eines Verwaltungsakts, ist nicht geschuldet.
Inhaltlich verpflichtet der Anspruch den Hoheitsträger dazu, den drohenden Eingriff vollständig zu unterlassen. Teilunterlassungen oder bloße Einschränkungen genügen nur dann, wenn sie den Eingriff effektiv verhindern. Maßstab ist der volle Schutz des betroffenen subjektiv-öffentlichen Rechts.
V. Grenzen des Anspruchs
Wie jeder öffentlich-rechtliche Anspruch kann auch der Unterlassungsanspruch eingeschränkt oder ausgeschlossen sein.
1. Unmöglichkeit
Ein Unterlassungsanspruch besteht nicht, wenn die verlangte Unterlassung tatsächlich oder rechtlich unmöglich ist. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Hoheitsträger zur Durchführung einer gesetzlich zwingend vorgeschriebenen Maßnahme verpflichtet ist.
2. Unzumutbarkeit
Darüber hinaus kann der Anspruch entfallen, wenn seine Erfüllung für die öffentliche Hand unzumutbar wäre. Die Prüfung der Unzumutbarkeit erfolgt im Wege einer Interessenabwägung: Es ist abzuwägen zwischen dem Schutzinteresse des Betroffenen und dem öffentlichen Interesse an der Durchführung der Maßnahme. Maßgeblich sind dabei insbesondere die Schwere des drohenden Eingriffs, der Aufwand für den Staat und etwaige Alternativen.
3. Mitverschulden und Verwirkung
Schließlich kann der Anspruch ausnahmsweise wegen Mitverschuldens oder Verwirkung ausgeschlossen sein. Ein solcher Ausschluss kommt allerdings nur in Betracht, wenn der Betroffene sich in widersprüchlicher Weise verhalten oder den Eingriff selbst mitverursacht hat. Da dies in der Praxis selten vorkommt, sollte eine solche Annahme nur bei eindeutigen Anhaltspunkten im Sachverhalt erfolgen.
VI. Prozessuale Durchsetzung
Zuletzt geht es um die prozessuale Durchsetzung des Anspruchs.
1. Rechtsweg
Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch ist vor den Verwaltungsgerichten geltend zu machen. Eine abdrängende Sonderzuweisung besteht nicht. Damit ist der Verwaltungsrechtsweg in der Regel eröffnet.
2. Statthafte Klageart
Prozessual wird der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch regelmäßig im Wege der allgemeinen Leistungsklage geltend gemacht. Diese ist statthaft, wenn der Kläger ein tatsächliches Verhalten der Verwaltung verhindern möchte, etwa ein bestimmtes Realhandeln.
Richtet sich das Begehren hingegen darauf, dass die Behörde einen Verwaltungsakt erlässt, der das Unterlassen sicherstellt (z. B. eine Schutzverfügung), ist ausnahmsweise die Verpflichtungsklage nach § 42 I 1 Alt. 2 VwGO die richtige Klageart.
3. Vorbeugende Unterlassungsklage
Eine vorbeugende Unterlassungsklage ist nur ausnahmsweise zulässig. Sie kommt in Betracht, wenn dem Betroffenen ein unzumutbarer Nachteil droht, der durch nachträglichen Rechtsschutz nicht mehr effektiv beseitigt werden kann, etwa bei irreversiblen Grundrechtsbeeinträchtigungen. Hier ist stets besonders sorgfältig zu prüfen, ob ein berechtigtes Interesse an vorbeugendem Rechtsschutz besteht.


