Schluss mit dem Lerntypen-Mythos
Wer sich im Jurastudium mit effektiven Lernstrategien beschäftigt, stößt häufig auf die Theorie der sogenannten „Lerntypen“. Die zentrale Annahme: Jeder Mensch bevorzugt einen bestimmten Sinneskanal über den er am besten lernt.
Gerade in der intensiven Phase der Examensvorbereitung hält sich dieses Konzept hartnäckig. Es klingt plausibel und bietet scheinbar eine einfache Erklärung für individuelles Lernverhalten.
Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Die Theorie der unterschiedlichen Lerntypen ist wissenschaftlich nicht haltbar. In diesem Artikel erklären wir, warum das so ist und worauf es wirklich ankommt, um (juristischen) Lernstoff dauerhaft und effektiv zu lernen - unabhängig davon, welcher Lerntyp man ist.
Warum Lerntypen wissenschaftlich nicht haltbar sind
Die Vorstellung, dass jeder Mensch einem bestimmten „Lerntyp“ zugeordnet werden kann – visuell, auditiv, kinästhetisch/haptisch oder kommunikativ –, stammt aus den 1970er-Jahren und wurde insbesondere durch Frederic Vester populär gemacht.¹ Nach dem sogenannten VAK-Modell sollen Lernende bessere Ergebnisse erzielen, wenn Lerninhalte ihrem bevorzugten Sinneskanal angepasst werden: z. B. Bilder für visuelle Typen, Podcasts für auditive, Bewegung für kinästhetische.
Das klingt zunächst überzeugend – doch genau darin liegt die Gefahr. Denn: Die moderne Lernforschung zeigt, dass Lernen nicht auf einen einzigen Sinneskanal beschränkt ist. Unser Gehirn verarbeitet Informationen grundsätzlich multimodal, rein visuelles Lernen oder auditives Lernen etwa bedient jeweils nur einen der möglichen Kanäle.
Wirklich entscheidend ist aber nicht, wie die Information in den Kopf gelangt, sondern was dann im Kopf damit passiert:
Erst wenn wir Inhalte verstehen, mit bereits vorhandenem Wissen verknüpfen und ihnen Bedeutung geben, können wir sie langfristig speichern. Lernen ist kein passives Aufnehmen, sondern ein aktiver, kognitiver Prozess.
Forschungslage: Kein Beweis für den Meshing-Effekt
Die zentrale Frage bei der Untersuchung der Existenz von Lernmethoden lautet:
Gibt es empirische Belege dafür, dass Menschen besser lernen, wenn der Unterrichtsstil ihrem angeblichen Lerntyp entspricht?
Die Antwort ist eindeutig: Nein.
Die wohl bekannteste Untersuchung hierzu stammt von Pashler et al. (2008).² In ihrer Übersichtsarbeit kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es keine belastbaren Studien gibt, die den sogenannten „Meshing-Effekt“ nachweisen – also den behaupteten Lernerfolg durch eine auf individuelle Lerntypen abgestimmte Vermittlungsform.
Weitere Studien stützen dieses Ergebnis:
Rogowsky et al. (2015)³ zeigten in einem kontrollierten Setting, dass visuelle oder auditive Präferenzen keinerlei Einfluss auf den Lernerfolg in Verständnisaufgaben hatten.
Aslaksen & Lorås (2018)⁴ analysierten 30 Jahre Forschung und kamen zu einem klaren Ergebnis: Maßnahmen, die sich an vermeintlichen Lerntypen orientieren, bringen keinen nachweisbaren Nutzen. Stattdessen empfehlen sie multimodales Lernen, das Elemente von kommunikativem, auditivem und haptischem Lernen kombiniert.
Fazit: Die Lerntypen-Theorie ist nicht nur überholt, sie kann auch Ressourcen binden, die besser in wirksame Lernmethoden investiert wären.
Was wirklich funktioniert: Evidenzbasierte Lernmethoden
Statt sich auf vermeintliche Lerntypen zu konzentrieren, lohnt es sich, auf das zu setzen, was die kognitive Psychologie tatsächlich empfiehlt. Fünf Methoden stechen dabei besonders hervor – und eignen sich hervorragend für das Jurastudium:
Active Recall – Aktives Abrufen statt passivem Wiederholen
Diese Methode basiert auf der Idee, dass wir durch den aktiven Versuch, Informationen abzurufen, unser Gedächtnis stärken. Anstatt Texte mehrfach zu lesen, testet man sich regelmäßig selbst.
Spaced Repetition – Wiederholen mit System
Basierend auf der „Vergessenskurve“ von Ebbinghaus wiederholt man Lerninhalte in wachsenden Zeitabständen. Tools wie Anki nutzen Algorithmen, um den optimalen Wiederholungszeitpunkt zu berechnen.
Interleaving – Themen variieren statt blockweise zu lernen
Anstatt sich stundenlang mit einem Rechtsgebiet zu befassen, wechselt man zwischen verschiedenen Inhalten. Das erhöht die Fähigkeit zur Unterscheidung und fördert den Transfer.
Elaboration – Tieferes Verständnis durch Erklären
Wer sich einen juristischen Sachverhalt selbst oder anderen erklärt, zwingt sich zur aktiven Verarbeitung durch kommunikatives Lernen.
Dual Coding – Inhalte visuell und verbal verknüpfen
Texte mit passenden visuellen Elementen wie Diagrammen oder Mindmaps zu verbinden, erhöht die Behaltensleistung.
Konkrete Anwendung im Jurastudium
Die genannten Methoden lassen sich problemlos in den juristischen Lernalltag integrieren, unabhängig vom "Lerntyp". Hier einige Beispiele:
Active Recall: Juristische Definitionen oder Prüfungsschemata mit Karteikarten lernen
Spaced Repetition: Gerade in Kombination mit Karteikarten kann man mit Spaced Repetition Definitionen, Prüfungsschemata oder Meinungsstreits in sinnvollen Abständen wiederholen.
Interleaving: Zivilrechtliche und strafrechtliche Fälle im Wechsel bearbeiten und nicht wochen- oder gar monatsweise nur ein Rechtsgebiet abarbeiten
Elaboratives Lernen: Nutze etwa die Feynman-Technik: Du lernst Dinge dann am besten, wenn du sie anderen Personen in einfachen Worten erklären kannst. Stelle einem Mitglied deiner Lerngruppe das Gutachten einer Falllösung so dar, als wärst du in einer mündlichen Prüfung.
Dual Coding: Eine Gegenüberstellung von Vorsatz und Fahrlässigkeit in einer Übersichtsskizze.
Auch wichtig: Rahmenbedingungen und Lernumfeld
Effektive Lernmethoden entfalten ihre volle Wirkung nur in einem passenden Umfeld. Folgende Hinweise helfen, die Grundlagen zu optimieren:
Arbeitsumgebung: Helle, ruhige Räume ohne Ablenkung fördern die Konzentration. Wer im Homeoffice lernt, sollte feste Lernzeiten definieren.
Pausenregel: 50 Minuten lernen, 10 Minuten Pause – das erhält die kognitive Leistungsfähigkeit. Oder nutze die Pomodoro-Technik.
Gruppenlernen gezielt nutzen: Lerngruppen sind ideal für kommunikatives Lernen, aber sollten nicht zur passiven Wissensaufnahme verkommen.
Fazit: Lernpsychologie statt Pseudo-Theorien
Der Glaube an feste Lerntypen vermittelt Sicherheit – doch er greift zu kurz. Die Forschung zeigt klar: Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass Menschen besser lernen, wenn Lehrinhalte ihrem sogenannten Lerntyp angepasst werden. Stattdessen hängt Lernerfolg viel stärker von aktiver Auseinandersetzung, Verständnis und der regelmäßigen Wiederholung ab.
Das bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich lernen. Jeder hat individuelle Vorlieben, Routinen und Rahmenbedingungen, die das Lernen beeinflussen. Diese lassen sich am besten durch reflektiertes Ausprobieren herausfinden:
Beobachte bewusst, wann dir das Lernen besonders leichtfällt – und wann nicht.
Wechsle gelegentlich die Herangehensweise, um herauszufinden, was dir liegt.
Hinterfrage deine Gewohnheiten: Wiederholst du nur aus Routine – oder hilft dir das Format wirklich?
Kombiniere verschiedene Ansätze und achte darauf, wie gut du Inhalte langfristig behältst.
Führe ein Lerntagebuch oder kurze Notizen, in denen du festhältst, was funktioniert – und was nicht.
Kurz: Es gibt keine perfekte Methode für alle – aber viele Wege, herauszufinden, was für dich persönlich am besten funktioniert. Entscheidend ist nicht der „Lerntyp“, sondern die aktive Gestaltung deines Lernprozesses.
¹ Frederic Vester, Denken, Lernen, Vergessen: Strategien für ein gesundes Gehirn (Stuttgart 1975), S. 48.
² Pashler, H., McDaniel, M., Rohrer, D. & Bjork, R. (2008). Learning Styles: Concepts and Evidence. Psychological Science in the Public Interest, 9(3), 105–119.
³ Rogowsky, B. A., Calhoun, B. M. & Tallal, P. (2015). Matching Learning Style to Instructional Method: Effects on Comprehension. Journal of Educational Psychology, 107(1), 64–78.
⁴ Aslaksen, K. & Lorås, H. (2019). Matching Instruction with Modality-Specific Learning Style: Effects on Immediate Recall and Working Memory Performance.