Studien zeigen: Lernende unterschätzen oft, wie effektiv die sogenannte Abrufübung (Retrieval Practice) ist – weil sie sich anstrengend anfühlt. Aber genau das macht sie so wirksam.
Du liest und markierst, aber das Erlernte bleibt nicht im Kopf?
Dann fehlt dir vielleicht nicht das Wissen oder die Disziplin, sondern der Zugriff auf das Gelernte. Die Lösung: Retrieval Practice, auf Deutsch: Abrufübung. Eine lernpsychologisch fundierte Methode, die gezielt trainiert, was im Staatsexamen den entscheidenden Unterschied macht – den aktiven Abruf von komplexem Wissen unter Zeitdruck. Genau das, was du brauchst, wenn du in der Klausur auf Schlag Begriffe, Definitionen oder Streitstände präsent haben musst.
Was ist Retrieval Practice?
Retrieval Practice bedeutet, dass du Wissen aus deinem Gedächtnis abrufst – ganz ohne nachzuschlagen. Es geht also nicht darum, nochmal im Skript nachzulesen oder Inhalte passiv aufzunehmen, sondern dein Gehirn aktiv zu fordern: Was weiß ich noch und wo hakt es noch?
Beispielsweise kannst du statt das Prüfungsschema zum rechtfertigenden Notstand gemäß § 34 StGB wiederholt zu lesen, versuchen, es vollständig aus dem Gedächtnis aufzuschreiben. Erst danach vergleichst du es mit der Vorlage und überprüfst, wo du richtig lagst und wo nicht.
Oder du nutzt (wie bei Constellatio) interaktive Formate wie Multiple-Choice-Fragen, Lückentexte oder Drag&Drop-Übungen. Sie alle basieren auf dem Prinzip der Retrieval Practice – weil sie dich zwingen, dein Wissen selbstständig zu aktivieren. Diese Formate sind also nicht bloß nette Abwechslung, sondern ein gezieltes Training für deine Abruffähigkeit.
Das Ziel: Die relevanten Verknüpfungen in deinem Gehirn werden gestärkt, dein Zugriff auf juristische Inhalte wird schneller – und das Wissen bleibt deutlich länger im Gedächtnis.
Warum funktioniert das so gut?
Die psychologische Forschung zeigt eindeutig: Es ist nicht das Lesen, das Wissen verankert – sondern das Abrufen.
Eine zentrale Studie von Roediger & Karpicke (2006) belegt: Lernende, die Inhalte regelmäßig abgerufen hatten, schnitten in späteren Tests signifikant besser ab als diejenigen, die denselben Stoff lediglich mehrfach gelesen hatten.
Auch im Bereich Jura gewinnt Retrieval Practice zunehmend an Bedeutung – und das aus gutem Grund. Das Jurastudium stellt besonders hohe Anforderungen an das Lernen: Der Stoff ist nicht nur inhaltlich enorm umfangreich, sondern auch in seiner Struktur äußerst komplex. Begriffe, Normen, Prüfungsschemata und Theorien hängen eng miteinander zusammen, sodass isoliertes Auswendiglernen kaum weiterhilft. Hinzu kommt der immense Prüfungsdruck. In Klausuren bleibt wenig Zeit, um lange nachzudenken oder im Gedächtnis zu kramen - die relevanten Informationen müssen schnell, sicher und strukturiert abrufbar sein.
In diesem Kontext zeigt sich, wie wichtig es ist, nicht nur ein oberflächliches Verständnis für juristische Inhalte zu haben, sondern sie aktiv und automatisiert abrufen zu können. Ein bloßes „Ich habe das mal gelesen“ reicht nicht aus, wenn du in einer mehrstündigen Examensklausur unter Zeitdruck mehrere komplexe Sachverhalte rechtlich durchdringen und in eine strukturierte Lösung bringen musst. Denn der Stoffumfang macht es unmöglich, alles gleichzeitig präsent zu halten – gefragt ist die Fähigkeit, genau die relevanten Wissensbausteine im entscheidenden Moment griffbereit zu haben.
Durch das wiederholte aktive Abrufen von Wissen trainierst du dein Gehirn gezielt darauf, genau diese Zugriffsfähigkeit zu verbessern. Du stärkst nicht nur dein Gedächtnis, sondern schärfst auch dein Problembewusstsein und deine juristische Denkstruktur. Das macht dich nicht nur sicherer in der Prüfung, sondern auch schneller.
Ein Beispiel: Stell dir vor, in einer Strafrechtsklausur wird der Fall eines Einbrechers geschildert, der beim Eindringen in eine Wohnung überrascht wird und zur Flucht ein Messer zückt. Wenn du nicht geübt darin bist, dein Wissen abzurufen, wird es dich wertvolle Zeit kosten und fehleranfällig sein, nachzuschlagen, ob hier eine gefährliche Körperverletzung gegeben ist oder ein Rücktritt vom Versuch möglich wäre. Wenn du aber regelmäßig mit Abrufübungen gearbeitet hast, erinnerst du dich sofort an die Definitionen, die Prüfungsschritte und typische Streitstände. Du kannst also zügig mit der Falllösung beginnen, weil du die Struktur bereits verinnerlicht hast – nicht nur verstanden, sondern abrufbereit.
Konkrete Anwendungsmöglichkeiten im Jurastudium
Nutze gezielt Formate wie Übungsfragen, Lückentexte, Drag&Drop-Tools oder strukturierte Falllösungen. Constellatio stellt dir solche Formate zur Verfügung – abgestimmt auf dein aktuelles Thema. Wichtig ist dabei: Der positive Lerneffekt entsteht nur dann, wenn du dich wirklich selbst zum Denken zwingst. Du solltest also erst dann nachsehen oder vergleichen, wenn du zuvor eine echte Abrufleistung erbracht hast.
Binde Retrieval Practice von Anfang an systematisch in deinen Lernplan ein. Statt immer wieder denselben Stoff zu lesen, solltest du frühzeitig anfangen, dich selbst abzufragen.
Ein Beispiel: Konzentriere dich auf die 20 % des Stoffes, die in den Prüfungen am wichtigsten sind – und investiere in diese gezielt 80 % deiner aktiven Abrufübungen. Nicht im Sinne des klassischen Pareto-Prinzips (mit 20 % Aufwand 80 % erreichen), sondern umgekehrt: Indem du den wichtigsten Kern besonders intensiv durch Abruftraining wiederholst, maximierst du deinen Lernertrag für die Klausur.
Noch wirksamer wird diese Methode, wenn du sie mit Spaced Repetition kombinierst – also dem Wiederholen in wachsendem zeitlichem Abstand. So entsteht ein nachhaltiger Lernprozess, der dir hilft, dich auch Wochen später noch an die wichtigsten Definitionen, Prüfungsschemata und Streitstände zu erinnern. (Einen eigenen Blogartikel dazu findest du hier.)
Vorteile von Retrieval Practice
Langzeitgedächtnis aktivieren
Statt Inhalte nur kurzzeitig zu behalten, verankerst du sie nachhaltig im Gehirn.
Transferleistung steigern
Du lernst, dein Wissen flexibel auf neue Fälle anzuwenden – entscheidend für die Fallbearbeitung.
Klausurvorbereitung optimieren
Abruftraining simuliert Prüfungssituationen – du bist besser vorbereitet auf Zeitdruck und Stress.
Blackouts vorbeugen
Durch regelmäßiges Erinnern verringerst du die Wahrscheinlichkeit, dass dir in der Klausur plötzlich alles entgleitet.
Selbstwirksamkeit erhöhen
Wenn du merkst, dass du Wissen aktiv abrufen kannst, stärkt das dein Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit.
Literatur:
Roediger, H. L., & Karpicke, J. D. (2006). Test-enhanced learning: Taking memory tests improves long-term retention. Psychological Science, 17(3).
Dunlosky, J., Rawson, K. A., Marsh, E. J., Nathan, M. J., & Willingham, D. T. (2013). Improving Students’ Learning With Effective Learning Techniques: Promising Directions From Cognitive and Educational Psychology. Psychological Science in the Public Interest, 14(1).
McDaniel, M. A., Anderson, J. L., Derbish, M. H., & Morrisette, N. (2007). Testing the testing effect in the classroom. European Journal of Cognitive Psychology, 19(4–5), 494–513.