I. Einleitung
Das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG ermöglicht es, ein bereits abgeschlossenes Verwaltungsverfahren unter bestimmten Voraussetzungen erneut zu prüfen. So wird sichergestellt, dass unter diesen Voraussetzungen auch rechtskräftige Verwaltungsakte nochmals überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden können.
Es wird differenziert zwischen dem Wiederaufgreifen im engeren Sinne nach § 51 I bis IV VwVfG und dem Wiederaufgreifen im weiteren Sinne nach § 51 V VwVfG.
Typische Klausurkonstellationen sind Fälle, in denen der Kläger ein Klageziel verfolgt und hilfsweise dazu eine Klage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellt. Dies stellt dann einen Fall der objektiven Klagehäufung gemäß § 44 VwGO dar.
Beispiel
A beantragt eine Sondernutzungserlaubnis einer Straße und erhält einen Ablehnungsbescheid von der Behörde, da in dem Zeitraum dort schon eine Demonstration in dieser Straße stattfindet. Daraufhin erhebt A Versagungsgegenklage auf Erlass der Erlaubnis und hilfsweise auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, da inzwischen die Demonstration abgesagt wurde und sich daher die tatsächlichen Umstände geändert haben.
II. Wiederaufgreifen im engeren Sinne, § 51 I bis IV VwVfG
Das Wiederaufgreifen im engeren Sinne bezieht sich auf die erneute Prüfung eines bereits bestandskräftigen Verwaltungsakts auf Antrag des Betroffenen.
1. Formelle Voraussetzungen
a) Antrag
Es muss nach § 51 IV VwVfG ein Antrag an die zuständige Behörde gestellt werden.
b) Frist, § 51 III VwVfG
Die Antragsfrist beträgt gemäß § 51 III VwVfG drei Monate ab der Kenntnisnahme des Grundes für das Wiederaufgreifen.
2. Materielle Voraussetzungen
a) Wiederaufnahmegrund, § 51 I VwVfG
§ 51 I VwVfG nennt in Nr. 1 bis 3 jeweils verschiedene alternative Voraussetzungen für das Vorliegen eines Widerrufsgrundes.
aa) § 51 I Nr. 1 VwVfG
Nach § 51 I Nr. 1 VwVfG liegt ein Wiederaufnahmegrund vor, wenn sich die Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen nachträglich geändert hat.
Beispiel
Ein Unternehmen erhält einen Bescheid, der die Genehmigung für den Betrieb einer Anlage verweigert, da zum Zeitpunkt des Bescheides nach der entsprechenden Verordnung bestimmte Grenzwerte nicht überschritten werden durften. Ein Jahr später wird die Verordnung dahingehend geändert, dass die Grenzwerte angehoben werden. Da diese neue Rechtslage nun zugunsten des Unternehmens wirkt, kann es die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, um eine positive Entscheidung zu erhalten.
bb) § 51 I Nr. 2 VwVfG
Nach § 51 I Nr. 2 VwVfG liegt ein Wiederaufnahmegrund vor, wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden.
Beispiel
Ein Bürger erhält einen negativen Bescheid auf seinen Antrag für eine Baugenehmigung, weil die Behörde davon ausgeht, dass das Baugrundstück nicht ausreichend tragfähig ist. Später bringt der Bürger ein neues geologisches Gutachten bei, das nachweist, dass die Bodenbeschaffenheit doch ausreichend für das Bauvorhaben ist. Da diese neuen Beweismittel die Grundlage des ursprünglichen Bescheides entkräften, kann der Bürger die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen.
cc) § 51 I Nr. 3 VwVfG
Nach § 51 I Nr. 3 VwVfG liegt ein Wiederaufnahmegrund vor, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind.
Merke
Nach dem Wortlaut von § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG ist die Voraussetzung, dass die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, explizit geregelt. Wenn eine dieser Nummern des Absatzes 1 geprüft wird, ist diese Voraussetzung direkt an dieser Stelle zu prüfen.
Im Gegensatz dazu nennt § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG nicht ausdrücklich die Voraussetzung „zugunsten des Betroffenen“, sondern verweist auf § 580 ZPO, der die Restitutionsklage normiert. Diese findet gemäß § 580 ZPO in bestimmten Fällen (§ 580 Nr. 1 bis 8 ZPO) statt, wenn neue Erkenntnisse vorliegen, die entscheidungserheblich sind oder im ursprünglichen Verfahren entscheidungserheblich gewesen wären. Obwohl § 580 ZPO im Wortlaut nicht ausdrücklich vorschreibt, dass die Änderung zugunsten des Betroffenen sein muss, ist dies in der Praxis selbstverständlich, da niemand klagen würde, um seine Rechtsposition zu verschlechtern. Daher wird durch systematische Auslegung die Voraussetzung der Änderung zugunsten des Betroffenen auch in § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG hineingelesen. Für den Prüfungsaufbau bedeutet dies, dass in den Fällen des § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG regelmäßig ein eigener Prüfungspunkt „Zugunsten des Antragstellers“ nach dem Wiederaufnahmegrund geprüft wird. Dieser Prüfungspunkt wird bei Nr. 1 und Nr. 2 in der Regel schon direkt im Wortlaut der Vorschrift geprüft.
Beispiel
Ein Unternehmer verliert eine Genehmigung aufgrund einer gefälschten Urkunde, die in das ursprüngliche Verfahren eingeflossen ist. Später wird nachgewiesen, dass diese Urkunde gefälscht war, was zu einer unrechtmäßigen Entscheidung führte.
b) Zugunsten des Antragstellers
Der Wiederaufnahmegrund, also die Änderung der materiellen Sach- und/oder Rechtslage in Form der § 51 I Nr. 1 bis 3 VwVfG, muss zugunsten des Antragstellers sein.
Merke
Wie ausgeführt, braucht es diesen Prüfungspunkt nur in den Fällen des § 51 I Nr. 3 VwVfG, da es in den anderen Fällen bereits in den Voraussetzungen des Wiederaufnahmegrundes geprüft wird.
c) Keine Verwirkung, § 51 II VwVfG
Gemäß § 51 II VwVfG ist der Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in einem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
Merke
Beachte, dass aufgrund der unbestimmten Rechtsbegriffe die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen selbst auch ein Verwaltungsakt ist.
3. Rechtsfolge
Bei Vorliegen der Voraussetzungen hat die Behörde als Rechtsfolge gemäß § 51 I VwVfG über die Änderung oder Aufhebung des Verwaltungsakts nach der neuen materiellen Sach- und Rechtslage zu entscheiden. Es findet also eine Zweitentscheidung auf Grundlage der neuen materiellen Sach- und Rechtslage statt.
Merke
Hier sieht man erneut den doppelten Verwaltungsaktscharakter: Der erste Verwaltungsakt ist aufgrund des Vorliegens unbestimmter Rechtsbegriffe die Entscheidung der Behörde über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 VwVfG. Die Behörde entscheidet in diesem Schritt darüber, ob es überhaupt zu einer Wiederaufnahme kommt, aber noch nicht über das Ergebnis der daraus folgenden erneuten Prüfung. Der zweite Verwaltungsakt ist dann die Zweitentscheidung (positiv oder negativ) an sich.
III. Wiederaufgreifen im weiten Sinne, § 51 V VwVfG
Das Wiederaufgreifen im weiteren Sinne basiert auf § 51 V VwVfG i.V.m. § 48 I 1 VwVfG oder § 49 I VwVfG.
§ 51 V VwVfG regelt, dass das antragsgebundene Verfahren zum Wiederaufgreifen des Verfahrens (enges Verfahren nach § 51 Abs. 1 bis 4 VwVfG) und die behördlichen Befugnisse zur Rücknahme (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG) oder zum Widerruf (§ 49 Abs. 1 VwVfG) eines Verwaltungsakts unabhängig voneinander bestehen. Diese Regelungen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern stehen parallel nebeneinander. Der Gesetzgeber möchte damit sicherstellen, dass die Befugnis der Behörde, von Amts wegen einen Verwaltungsakt aufzuheben, auch dann erhalten bleibt, wenn der Betroffene keinen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen kann – sei es aufgrund mangelnder Voraussetzungen oder Fristversäumnis. In solchen Fällen hat der Betroffene die Möglichkeit, sein Anliegen formlos als „Anregung“ bei der Behörde einzureichen, ohne formale Antragsvoraussetzungen erfüllen zu müssen.
IV. Unterschiede zwischen Wiederaufgreifen im engeren und weiteren Sinne
Zwischen den beiden Alternativen bestehen damit im Gesamten einige zu berücksichtigende Unterschiede:

Das Wiederaufgreifen im engeren Sinne setzt einen Antrag des Betroffenen voraus; das Verfahren im weiteren Sinne wird von Amts wegen eingeleitet.
Beim Verfahren im engeren Sinne besteht ein Fristerfordernis.
Ein Anspruch des Betroffenen auf Wiederaufgreifen besteht nur beim Verfahren im engeren Sinne. §§ 48, 49 VwVfG beinhalten eine Ermessensentscheidung der Behörde.
Das Vorliegen der Voraussetzungen beim engen Verfahren führt zu einer Zweitentscheidung nach materiellem Recht. Bei dem weiteren Verfahren führt dies zu einer eventuellen Aufhebung des Verwaltungsakts durch Rücknahme (§ 48 I 1 VwVfG) oder Widerruf (§ 49 I VwVfG).