I. Einleitung
Das Versäumnisurteil ist eine spezielle Art von Urteil, das sowohl in der Praxis als auch in der Klausur relevant ist. Denn einerseits müssen (wie in vielen ZPO-Klausurkonstellationen) die materiell-rechtlichen Probleme geprüft und diese aber in komplexes Prüfungsschema eingebaut werden, das ein gutes Systemverständnis erfordert.
Das Versäumnisurteil wird dann relevant, wenn ein Beklagter nicht zur Verhandlung erscheint oder sich jedenfalls nicht zur Sache äußert. Wie kann das Gericht dann über den Streitgegenstand entscheiden? Was ist seine Entscheidungsgrundlage? Zwar gilt grundsätzlich die Dispositionsmaxime, aber dennoch wird den Parteien ein Mindestmaß an Mitwirkung im Prozess abverlangt.
II. Voraussetzungen
Es ist zu unterscheiden zwischen
dem ersten Versäumnisurteil, das den Regelungen der §§ 330 ff. ZPO folgt, sowie
dem zweiten Versäumnisurteil, das nach einem Einspruch (dazu später mehr) ergehen kann und eine zusätzliche Regelung in § 345 ZPO gefunden hat.
1. Erstes Versäumnisurteil
Merke
Ein Versäumnisurteil kann sowohl gegen den Beklagten (§ 331 ZPO) als auch gegen den Kläger ergehen (§ 330 ZPO). Sowohl in der Praxis als auch der Klausur ist aber das Versäumnisurteil gegen den Beklagten häufiger. Denn der Kläger hat ja initial Klage eingelegt - er ist also schon aktiv geworden und wird daher in der Regel nicht in dem von ihm gestarteten Prozess fehlen.
a) Prozessantrag (§§ 330, 331 I, III ZPO)
Zunächst muss die anwesende Partei in der mündlichen Verhandlung einen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils stellen.
b) Säumnis in der Verhandlung
Die andere Partei muss in einem Termin der mündlichen Verhandlung säumig sein. Eine Partei ist säumig, wenn sie
nicht zum Termin erscheint (§ 220 II ZPO),
nicht zur Sache verhandelt (§ 333 ZPO) - d.h. insbesondere keinen Sachantrag gemäß §§ 137 I, 297 I ZPO stellt,
im Anwaltsprozess ohne Anwalt erscheint (§ 78 ZPO) oder
im schriftlichen Vorverfahren die Verteidigungsbereitschaft nicht anzeigt (§§ 276, 331 III ZPO).
c) Kein Erlasshindernis (§§ 335, 337 ZPO)
Es darf kein Fall der §§ 335, 337 ZPO gegeben sein. In den Fällen des § 335 ZPO ist das Versäumnisurteil unzulässig, in den Fällen des § 337 ZPO vertagt das Gericht die Entscheidung über den Antrag. In beiden Fällen darf aber jedenfalls kein Versäumnisurteil erlassen werden, da die nicht erschienene Partei geschützt werden soll.
Gesetzesverweis
Sofern es in deinem Bundesland zulässig ist, zitiere dir die §§ 217, 218, 274 ZPO an den § 335 ZPO, um dich dann zu erinnern, dass dieser Hindernisgrund eine ordnungsgemäße Ladung voraussetzt.
d) Zulässigkeit der Klage
Das Versäumnisurteil ist ein Sachurteil. Ist die Klage aber unzulässig, ergeht ein normales Prozessurteil aufgrund der Unzulässigkeit. Hier sind die allgemeinen Voraussetzungen zu prüfen.
e) Schlüssigkeit der Klage
Die Klage muss schlüssig sein. Ist die Klage unschlüssig, wird die Klage abgewiesen.
Merke
Schlüssigkeit bedeutet, dass der Tatsachenvortrag des Klägers den geltend gemachten rechtlichen Anspruch trägt. Begründetheit demgegenüber setzt voraus, dass dieser Tatsachenvortrag auch bewiesen wird.
Gemäß § 331 I 1 ZPO ist bei Beantragung eines Versäumnisurteils „das tatsächliche mündliche Vorbringen des Klägers als zugestanden anzunehmen“.
In der Sache wird hier in der Klausur eine „normale“ Prüfung der materiellen Rechtslage aufgrund des Sachverhalts erwartet. Ausgangspunkt für die Prüfung ist aber - aufgrund der Säumnis der Partei - ausschließlich der Vortrag der anwesenden Partei. Etwaiges Bestreiten der säumigen Partei ist unerheblich.
Merke
Die anwesende Partei kann aber auch für sie selbst nachteilige Tatsachen vorbringen. Soweit sie Einwendungen (oder: geltend gemachte Einreden) vorträgt, werden diese berücksichtigt. Trägt sie also eine Tatsache vor, die zur Nichtigkeit eines für sie vorteilhaften Vertrages führen würde, so wird dies zu ihren Lasten berücksichtigt.
2. Zweites Versäumnisurteil
Wenn gegen eine Partei ein Versäumnisurteil erlassen wird, diese einen Einspruch einlegt (dazu später mehr) und in einer dann folgenden mündlichen Verhandlung erneut säumig ist, kann unter Umständen ein zweites Versäumnisurteil erlassen werden.
Die Prüfung erfolgt in diesen Fällen nach einem ähnlichen Schema wie für das erste Versäumnisurteil.
a) Prozessantrag (§§ 330, 331 I, III ZPO)
Zunächst muss der Kläger im Verfahren einen Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils stellen.
b) Säumnis in der Verhandlung
Die andere Partei muss in einem Termin der mündlichen Verhandlung säumig sein. Insoweit entspricht die Prüfung derjenigen Prüfung bei Erlass eines 1. Versäumnisurteils.
Merke
Wichtig: Gemäß § 345 ZPO geht es um den Termin, der auf den Einspruch folgt. Die säumige Partei darf also nicht zwischenzeitlich für eine Verhandlung erschienen seien und verhandelt haben.
c) Zulässiger Einspruch
Der Einspruch der säumigen Partei muss zulässig gewesen sein.
Merke
Wie beim 1. Versäumnisurteil wird auch hier eine Zulässigkeitsprüfung vorgenommen. Der Unterschied liegt darin, dass dort die Zulässigkeit der Klage geprüft wird, während es hier auf den Rechtsbehelf des Einspruchs ankommt.
d) Rechtmäßigkeit des ersten Versäumnisurteils
An dieser Stelle kommt es nicht auf die Schlüssigkeit der ursprünglichen Klage an, sondern auf die Rechtmäßigkeit des 1. Versäumnisurteils. Dies ist aber nicht unumstritten.
aa) Grundfall
Problem
Prüfumfang im Rahmen des zweiten Versäumnisurteils - Überprüfung des ersten Versäumnisurteils erforderlich?
BGH: Einer Überprüfung des ersten Versäumnisurteils findet nicht statt. Begründet wird dies damit, dass § 345 ZPO eine solche Prüfung nicht vorsieht und eine Regelung wie der für den Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid geltende § 700 VI ZPO, der auf § 331 ZPO verweist, fehlt. Außerdem ist der säumigen Partei nach dem ersten Versäumnisurteil eine erhöhte Sorgfaltspflicht zuzumuten. Da § 345 ZPO lex specialis zu § 342 ZPO ist, ist diese Norm hier nicht anwendbar. Das heißt: Die nach § 342 ZPO erneut erforderliche Zulässigkeits- und Schlüssigkeitsprüfung ist hier nicht erforderlich.
A.A.: Es ist auch die Rechtmäßigkeit des 1. Versäumnisurteils, also auch die Zulässigkeit und Schlüssigkeit der Ursprungsklage zu prüfen. Dies gebieten materielle Gerechtigkeitserwägungen, da die säumige Partei nicht aufgrund eines fehlerhaft ergangenen ersten Urteils sanktioniert werden soll. Außerdem ist § 342 ZPO zu berücksichtigen: Durch den Einspruch befindet sich der Prozess in der Lage, die vor dem Einspruch bestand - und in diesem Zeitpunkt hätte natürlich eine Prüfung von Zulässigkeit und Schlüssigkeit der Klage stattfinden müssen.
Gesetzesverweis
Sofern es in deinem Bundesland zulässig ist, kannst du dir den § 700 VI ZPO an den § 345 ZPO zitieren, um dich an den Zusammenhang zwischen den beiden Normen und die Problematik des Prüfungsumfangs im Rahmen des zweiten Versäumnisurteils zu erinnern.
bb) Zweites Versäumnisurteil nach Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid
Problem
Prüfumfang nach Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid
Anders als bei der Frage des Prüfumfangs nach der Einrede gegen ein erstes Versäumnisurteil wird die entsprechende Frage hier einheitlich beantwortet: Es müssen Zulässigkeit und Begründetheit der ursprünglichen Klage geprüft werden. Hintergrund dessen ist, dass bei Erlass eines Vollstreckungsbescheids keine gerichtliche Prüfung der materiellen Rechtslage erfolgt. Würde also bei Erlass eines zweiten Versäumnisurteils erneut nicht die Rechtslage geprüft, erginge eine Entscheidung zulasten der säumigen Partei, ohne dass jemals eine Prüfung stattgefunden hätte. Dies ergibt sich auch ausdrücklich aus § 700 VI ZPO.
3. Zusammenfassung

III. Rechtsfolge
Die Rechtsfolgen des ersten und zweiten Versäumnisurteils sind unterschiedliche, da sich der Prozess in einem unterschiedlichen Stadium befindet.
Merke
Oftmals wird ein „normales“ Endurteil wegen Unzulässigkeit oder Unbegründetheit gegen den Kläger in einer Säumniskonstellation als „unechtes Versäumnisurteil“ bezeichnet. Es ist aber in Wahrheit kein Versäumnisurteil, sondern eben ein normales Urteil, das ergeht, weil die Klage nicht zulässig oder nicht begründet ist. Das Urteil ergeht aber nicht aufgrund der Säumnis des Klägers - anders als bei einem „echten“ Versäumnisurteil gemäß § 330 ZPO.
1. Erstes Versäumnisurteil
Bei Erlass eines ersten Versäumnisurteils ergeht die Entscheidung gemäß § 331 ZPO auf Grundlage des Tatsachenvorbringens der anwesenden Partei. Wenn das Vorbringen also schlüssig war, ergeht ein Versäumnisurteil, das dem Kläger seinen geltend gemachten Anspruch zuspricht (§ 331 ZPO) oder die Klage abweist (§ 330 ZPO).
2. Zweites Versäumnisurteil
Durch den Erlass eines zweiten Versäumnisurteils wird gemäß § 345 ZPO der Einspruch gegen das erste Versäumnisurteil verworfen.
IV. Rechtsbehelf gegen Versäumnisurteil
Gegen ein (echtes) Versäumnisurteils steht der betroffenen Partei der Einspruch gemäß §§ 338 ff. ZPO zu. Dies gilt nicht nach Erlass eines zweiten Versäumnisurteils, dann ist nur die Berufung zulässig (§ 514 Abs. 2 ZPO).
1. Einspruch (gegen 1. VU)
Merke
Durch den Einspruch geht das Verfahren nicht in die nächsthöhere Instanz, sondern verbleibt in der Ausgangsinstanz.
a) Voraussetzungen
Der Einspruch ist nach dem folgenden Schema zu prüfen:
aa) Standhaftigkeit des Einspruchs (§ 338 ZPO)
Das Urteil, gegen das sich der Einspruch richtet, muss ein Versäumnisurteil sein.
bb) Frist (§ 339 ZPO)
Für den Einspruch besteht eine Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Versäumnisurteils.
cc) Form (§ 340 ZPO)
Der Einspruch muss schriftlich bei dem jeweiligen Prozessgericht eingelegt werden und die in § 340 ZPO genannten Pflichtangaben enthalten.
b) Rechtsfolge
Wenn der Einspruch zulässig ist, wird der Prozess in die Situation vor der Säumnis zurückversetzt (§ 342 ZPO). Danach werden in einem neuen Verhandlungstermin wieder Zulässigkeit und Begründetheit geprüft (§ 341a ZPO).
Klausurtipp
Die Klausur wird bei Vorliegen eines Versäumnisurteils niemals nur nach den Erfolgsaussichten eines Einspruchs fragen, weil dies nicht die Prüfung materieller Rechtsfragen erlaubt. Daher wird oft nach den Erfolgsaussichten der Klage gefragt. Wenn also ein Versäumnisurteil vorliegt, gegen das Widerspruch eingelegt wird, ist zu prüfen:
Wurde das Versäumnisurteil durch einen wirksamen Einspruch aufgehoben?
Ist die (ursprüngliche) Klage zulässig und begründet?
2. Berufung (gegen ein zweites Versäumnisurteil)
Gegen ein zweites Versäumnisurteil kann der Einspruch nicht eingelegt werden (§ 345 ZPO). Daher kann die Partei, gegen die das zweite Versäumnisurteil ergangen ist, lediglich Berufung einlegen (§ 514 II ZPO).
Gesetzesverweis
Sofern es in deinem Bundesland zulässig ist, kannst du dir den § 514 II ZPO an den § 345 ZPO kommentieren, um dich an die alternative Rechtsschutzmöglichkeit der Berufung bei einem zweiten Versäumnisurteil zu erinnern.
Bei Einlegung der Berufung wird, neben den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Berufung selbst (§§ 511 ff. ZPO) nur geprüft, ob die Versäumung des Termins schuldhaft war oder nicht.
Aber: Wenn das zweite Versäumnisurteil infolge des Einspruchs gegen einen Vollstreckungsbescheid erging, ist anerkannt, dass die Berufung auch dann begründet sein kann, wenn die Klage im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einspruch unzulässig oder unschlüssig war.
3. Zusammenfassung
