Es kann vorkommen, dass du in der Klausur in deinem Gutachten alle Anspruchsvoraussetzungen und etwaige Einwendungen geprüft hast und anschließend zu dem Ergebnis kommst, dass der Anspruch durchgeht. Dieses Ergebnis kann dir manchmal „unfair“ oder „ungerecht“ vorkommen. In solchen Fällen ist an die unzulässige Rechtsausübung zu denken. Diese stellt als eine Art letzte Notbremse eine Korrekturmöglichkeit dar, um unbilligen Ergebnissen entgegenzuwirken.
Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung begrenzt in Ausnahmesituationen die Durchsetzung „formal“ bestehender Rechte.
Unter dem Oberbegriff der unzulässigen Rechtsausübung lassen sich mehrere Grundsätze und Einwendungen zusammenfassen.
I. Schikaneverbot (§ 226 BGB)
Nach § 226 BGB ist die Ausübung eines Rechts unzulässig, wenn damit nur der Zweck verfolgt wird, einem anderen einen Schaden zuzufügen.
Da Handlungen in der Regel auch einen anderen Zweck verfolgen, ist das Schikaneverbot des § 226 BGB kaum anwendbar.
II. Verbot sittenwidrig schädigender Rechtsausübung (§ 826 BGB)
§ 826 BGB räumt demjenigen, der vorsätzlich sittenwidrig geschädigt wurde einen deliktischen Schadensersatzanspruch ein. Näheres zu § 826 BGB kannst du hier nachlesen.
Aus dem Rechtsgedanken des § 826 BGB folgt zusätzlich ein Verbot der sittenwidrig schädigenden Rechtsausübung. Dieses begründet eine Einrede, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung begründet.
III. Verbot treuwidriger Rechtsausübung, § 242 BGB
Am klausurrelevantesten ist das Verbot der treuwidrigen Rechtsausübung. Dieses wird aus dem Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB hergeleitet.
Merke
Insgesamt gilt es beim Umgang mit dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung gemäß § 242 BGB vorsichtig zu sein. Die Ausnahmevorschrift des § 242 BGB steht nämlich gewissermaßen im Konflikt mit der Gewaltenteilung, indem sie die Möglichkeit verschafft, die Gesetzesanwendung im Einzelfall zu korrigieren. Bei dieser Korrektur sollte man sich daher unbedingt an die anerkannten Fallgruppen halten und diese im Zweifel eher restriktiv auslegen. Die Anwendung des § 242 BGB darf nicht zu Billigkeitsergebnissen führen.
1. Unredlicher Erwerb der eigenen Rechtsstellung
Eine unzulässige Rechtsausübung nach § 242 BGB kommt in Betracht, wenn ein unredlicher Erwerb der eigenen Rechtsstellung stattgefunden hat. Hierbei ist die Ausübung eines Rechts in der Regel unzulässig, wenn das Recht durch Verstoß gegen ein Gesetz, gegen die guten Sitten oder gegen vertragliche Bestimmungen erworben wurde.
2. Pflichtwidriges Verhalten
Außerdem kann ein eigenes pflichtwidriges Verhalten eine Einrede nach § 242 BGB begründen.
Regelmäßig führen Verletzungen eigener Vertragspflichten zu Schadensersatzansprüchen, die im Rahmen der Aufrechnung oder eines Zurückbehaltungsrechts geltend gemacht werden können.
Ausnahmsweise kann die Geltendmachung eines Anspruchs jedoch wegen eigenem pflichtwidrigen Verhalten unzulässig sein.
Beispiel
Die Geltendmachung eines Honoraranspruchs durch einen Rechtsanwalt ist unzulässig, wenn dieser Parteiverrat nach § 356 StGB begangen hat.
3. Dolo-agit-Einrede
Einen weiteren Anwendungsfall der treuwidrigen Rechtsausübung nach § 242 BGB stellt die dolo agit Einrede dar. Sie ist einschlägig, wenn es an einem berechtigten Eigeninteresse an der Geltendmachung eines Rechts fehlt. Das ist dann der Fall, wenn jemand etwas verlangt, was er augenblicklich wieder zurückgeben muss.
Außerdem ist § 242 BGB bei widersprüchlichem Verhalten (venire contra factum proprium) und der Verwirkung einschlägig.
4. Widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium)
Eine Rechtsausübung kann ausnahmsweise unzulässig sein, wenn sie einen Widerspruch zu einem früheren Verhalten darstellt. Hierbei ist widersprüchliches Verhalten insbesondere dann rechtsmissbräuchlich, wenn dadurch für die andere Partei ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde.
Beispiel
Der Arbeitgeber kündigt das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer. Er erklärt sich jedoch bei Ausspruch der Kündigung bereit, diese zurückzuziehen, falls der Arbeitnehmer auf neue Bedingungen des Arbeitgebers eingeht. Tut der Arbeitnehmer dies, darf der Arbeitgeber die Kündigung nicht mehr aufrechterhalten, auch wenn diese ursprünglich gerechtfertigt war.
5. Verwirkung
Die Verwirkung ist am klausurrelevantesten. Sie stellt einen Sonderfall des widersprüchlichen Verhaltens dar.
Beispiel
Unter Verwirkung ist die Versagung der Geltendmachung eines Rechts zu verstehen, welche aufgrund des schutzwürdigen Vertrauens der Gegenpartei einen Verstoß gegen Treu und Glauben begründet.
Die Verwirkung bezweckt einen Vertrauensschutz und kommt demjenigen zugute, der berechtigterweise darauf vertraut, dass der Anspruchsteller sein Recht nicht mehr geltend machen würde. Da ein solches Vertrauen erst nach einer gewissen Zeit aufgebaut werden kann, kommt der Verwirkung, wie auch der Verjährung in zeitlicher Hinsicht eine Bedeutung zu.
Im Gegensatz zur Verjährung kommt die Verwirkung jedoch in Betracht, wenn eine Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Die Verwirkung bezieht sich nur auf relative Rechte. Absolute Rechte wie etwa das Eigentum oder beschränkte dingliche Rechte unterliegen nicht der Verwirkung.
Die Einwendung der Verwirkung setzt ein Zeitmoment und ein Umstandsmoment voraus.
Im Rahmen des Zeitmoments ist das Untätigbleiben des Berechtigten während eines längeren Zeitraums erforderlich.
Das Umstandsmoment erfordert, dass die Gegenpartei darauf vertraut hat, dass der Berechtigte sein Recht nicht mehr geltend machen wolle und nicht mehr geltend machen werde.
Außerdem muss dieses Vertrauen der Gegenpartei schutzwürdig sein. Sie muss bei verständiger Würdigung aller Umstände auf die Nichtgeltendmachung des Rechts vertraut haben dürfen.
Weiterhin ist im Rahmen des Umstandsmoments erforderlich, dass die verspätete Rechtsausübung für die Gegenpartei unzumutbar ist.
Zeitmoment und Umstandsmoment stehen in gegenseitiger Abhängigkeit: Je kürzer der Zeitraum ist, umso gravierender müssen die Umstände erscheinen, die das Vertrauen des Schuldners rechtfertigen können. Je länger der verstrichene Zeitraum ist, desto geringere Bedeutung kommt den Umständen zu, aus denen sich das Vertrauen ergibt.