Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem übergesetzlichen entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB analog). Der übergesetzliche Notstand ist ein ungeschriebener Entschuldigungsgrund, der einen Täter von der Strafbarkeit freistellt, wenn er in einer außergewöhnlichen Zwangslage handelt und die Rechtsordnung keine zumutbare Möglichkeit bietet, rechtstreu zu bleiben. Diese Figur beruht auf dem Grundsatz, dass menschliches Verhalten unter extremem Druck oder existenziellen Konflikten einer besonderen rechtlichen Bewertung bedarf. Anders als Rechtfertigungsgründe wie der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) beseitigt der übergesetzliche Notstand nicht die Rechtswidrigkeit der Tat, sondern entschuldigt das Verhalten des Täters aufgrund seiner individuellen Überforderungssituation. Der übergesetzliche Notstand wird nur in besonders engen Ausnahmefällen anerkannt, die nicht bereits durch die gesetzlichen Entschuldigungsgründe erfasst werden.
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Aufgrund ähnlicher Prüfungsschemata sowie Überschneidungen der typischen Fallkonstellationen wird empfohlen, die Artikel zur Notwehr (§ 32 StGB), zum rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), zum entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) und zum übergesetzlichen Notstand (§ 35 StGB analog) nacheinander zu bearbeiten.
Artikel zur Notwehr, § 32 StGB
Artikel zum rechtfertigenden Notstand, § 34 StGB (baut auf dem Artikel zur Notwehr auf)
Artikel zum entschuldigenden Notstand, § 35 StGB (baut auf dem Artikel zum rechtfertigenden Notstand auf)
Artikel zum übergesetzlichen entschuldigenden Notstand, § 35 StGB analog (baut auf dem Artikel zum entschuldigenden Notstand auf)!
I. Prüfungsstandort
Der übergesetzliche entschuldigende Notstand wird, wie alle Entschuldigungsgründe, im Prüfungspunkt der Schuld geprüft. Das Modul „Schema übergesetzlicher entschuldigender Notstand“ ist dabei vollständig in die Prüfung des Delikts eingebunden. Kommt der übergesetzliche Notstand für mehrere zeitgleich begangene Delikte in Betracht, kann regelmäßig nicht pauschal auf eine einmalige Prüfung verwiesen werden, da die Entschuldigung für jede einzelne Beeinträchtigung eines Rechtsguts gesondert geprüft werden muss. Das Schema des übergesetzlichen Notstands besteht aus den objektiven Voraussetzungen der Notstandslage und der Notstandshandlung sowie dem subjektiven Element des Gefahrabwendungswillens. Im Vergleich zum gesetzlich geregelten entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) weist der übergesetzliche Notstand aber einige Besonderheiten auf, die sowohl im Aufbau des Prüfungsschemas als auch inhaltlich berücksichtigt werden müssen.

II. Typischer Anwendungsfall
Typischer Anwendungsfall des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands nach § 35 StGB analog ist die Zwangslage, in der der Täter gezwungen ist, eigene oder fremde Rechtsgüter zu beeinträchtigen, um eine größere Gefahr abzuwenden.
Beispiel
Weichenstellerfall
Ein außer Kontrolle geratener Güterzug rast auf einen Bahnhof zu, in dem ein voll besetzter Personenzug steht. Ein Weichensteller erkennt die drohende Katastrophe und hat die Möglichkeit, den Güterzug auf ein Nebengleis umzuleiten. Allerdings befinden sich auf diesem Nebengleis mehrere Gleisarbeiter, die durch das Umlenken des Zuges getötet würden. Der Weichensteller steht vor der Entscheidung, entweder nichts zu tun und den Zusammenstoß mit dem Personenzug zuzulassen, was zahlreiche Todesopfer unter den Passagieren zur Folge hätte, oder die Weiche umzulegen und dadurch das Leben der Passagiere zu retten, jedoch das Leben der Gleisarbeiter zu “opfern”. Er entscheidet sich für Zweites, die Gleisarbeiter sterben.
In diesem Beispielfall scheitert:
§ 34 StGB: wegen des Abwägungsverbots Leben gegen Leben
§ 35 StGB: weil die Gleisarbeiter keine dem Weichensteller nahestehenden Personen waren
Beispiel
Abgewandelter Bergsteiger-Fall
A, B und C sind erfahrene Bergsteiger und klettern regelmäßig zusammen riskante Bergtouren. Als sich ein Gesteinsbrocken löst, verlieren A, B und C den Halt, prallen gegen die Felswand und werden nur noch durch einen Karabinerhaken gehalten. Dieser hält dem Gewicht der drei aber nicht mehr Stand und beginnt sich zu lösen. A ist durch den Aufprall bewusstlos geworden und hängt ganz oben an der Sicherungsleine. Der zufällig vorbeikommende Wanderer W erkennt die Situation und entscheidet sich kurzerhand dazu, wenigstens den A zu retten, indem er die Leine unterhalb des bewusstlosen A kappt. B und C stürzen 600 m in die Tiefe und sterben.
In diesem Beispielfall scheitert:
§ 34 StGB: wegen des Abwägungsverbots Leben gegen Leben
§ 35 StGB: weil A keine dem Wanderer nahestehende Person war
Beispiel
Flugzeugkaperung
Terroristen haben ein Passagierflugzeug gekapert und drohen, es in ein bewohntes Gebiet zu steuern, was den Tod tausender Menschen zur Folge hätte. Ein Kampfpilot wird beauftragt, das Flugzeug abzuschießen, obwohl dabei die Insassen des Flugzeugs sicher sterben würden. Der Pilot entscheidet sich für den Abschuss, um das größere Rechtsgut – das Leben der Menschen am Boden – zu schützen. Auch hier könnte nach den Grundsätzen des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands eine Entschuldigung in Betracht kommen, da der Pilot unter einer extremen Zwangslage gehandelt hat.
In diesem Beispielfall scheitert:
§ 34 StGB: wegen des Abwägungsverbots Leben gegen Leben
§ 35 StGB: weil die Passagiere keine dem Piloten nahestehenden Personen waren
Beispiel
“Schotten dicht”
Ein Kapitän schließt bei einem schweren Wassereinbruch die Schotten, um das Schiff und die Mehrzahl der Besatzung zu retten. Dabei nimmt der Kapitän bewusst in Kauf, dass zwei Matrosen in einem wasserdurchfluteten Bereich eingeschlossen werden und sterben. Der Kapitän handelt unter Zwang, die Mehrheit zu retten, und könnte durch § 35 StGB analog entschuldigt sein.
In diesem Beispielfall scheitert:
§ 34 StGB: wegen des Abwägungsverbots Leben gegen Leben
§ 35 StGB: weil (1.) der Kapitän als Schiffsführer erhöhte Gefahrtragungspflichten bzw. Duldungspflichten treffen und sich nicht auf sein eigenes Leben berufen kann und (2.) die Matrosen keine dem Weichensteller nahestehende Personen waren
III. Notstandslage
Als erste Voraussetzung muss eine objektive Notstandslage vorliegen. Die Notstandslage erfordert eine gegenwärtige Gefahr für das Rechtsgut Leben, die einen Personenkreis betrifft, der außerhalb des Anwendungsbereichs von § 35 StGB liegt.
1. Rechtsgut: Leben
Der übergesetzliche entschuldigende Notstand kommt nur in Betracht, wenn das Rechtsgut Leben bedroht ist. Der Täter selbst, ein Angehöriger oder eine ihm nahestehende Person sind, anders als in § 35 StGB, nicht Teil der betroffenen Personengruppe. Es muss sich vielmehr um andere Personen handeln, deren Leben durch die Gefahr unmittelbar bedroht ist.
2. Gegenwärtige Gefahr
Ebenso wie bei § 35 StGB muss auch im Rahmen des übergesetzlichen Notstands eine Gefahr bestehen. Die Definitionen hier sind deckungsgleich mit denen des § 35 StGB.
Definition
Eine Gefahr für das betroffene Rechtsgut liegt vor, wenn aus einer objektiven ex-ante Perspektive aufgrund tatsächlicher Umstände der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist.
Im Gleichlauf zum Notstand nach § 34 StGB muss die für das Rechtsgut festgestellte Gefahr auch im Rahmen des § 35 StGB gegenwärtig sein.
Definition
Eine Gefahr ist gegenwärtig, wenn die Bedrohungslage bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit in einen Schaden umschlagen kann.
IV. Notstandshandlung
Ein wesentlicher Unterschied zum entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB liegt in der Prüfung der Notstandshandlung.
1. Keine Rechtfertigung nach § 34 StGB oder Entschuldigung nach § 35 StGB
Zunächst darf der Täter nicht bereits nach § 34 StGB gerechtfertigt oder nach § 35 StGB entschuldigt gehandelt haben. §§ 34, 35 StGB müssen folglich zwangsmäßig bereits vor dem übergesetzlichen Notstand nach § 35 StGB analog geprüft und verneint worden sein.
Die Prüfung scheitert in vielen Fällen - wie oben bereits erläutert - an der Angemessenheit wegen des Abwägungsverbots von Leben gegen Leben (§ 34 StGB) oder an einem betroffenen Personenkreis außerhalb von § 35 StGB.
Merke
Vor dem übergesetzlichen entschuldigenden Notstand sind immer erst die gesetzlich normierten Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe zu prüfen, insbesondere §§ 34, 35 StGB.

2. Erforderlichkeit und ethische Gesamtbetrachtung
Die Erforderlichkeitsprüfung des übergesetzlichen Notstands ist leicht abgewandelt und setzt unter anderem eine ethische Gesamtabwägung voraus.
Definition
Die Notstandshandlung darf das einzige Mittel sein, um größeres Unheil abzuwenden.
Es muss also zunächst geprüft werden, ob das Unheil, das durch die Notstandshandlung verursacht wurde, geringer ist als das Unheil, das ohne Einschreiten des Täters entstanden wäre. Im Rahmen dieser Frage ist die sogenannte ethische Gesamtbetrachtung vorzunehmen. So kann etwa ein Kriterium sein, ob sich um Kinder auf der einen und ohnehin todgeweihte alte Personen auf der anderen Seite handelt. Auch quantitative Überlegungen können als Kriterium herangezogen werden (3 Menschenleben gegen 50 Menschenleben). Wichtig ist dabei die Zwangslage, in der sich der Täter befunden haben muss. Die Notstandshandlung, die ethisch ein geringeres Übel hervorruft, muss dann noch einzige Mittel sein, das bei natürlichem Lauf der Dinge drohende größere Unheil abzuwenden.
Zu problematisieren sind im Rahmen der ethischen Gesamtbetrachtung die Fälle fehlender Gefahrengemeinschaft. Gemeint sind Fälle, in denen der Notständler Menschenleben opfert, die vorher nicht gefährdet waren. So etwa der oben bereits aufgeführte Weichenstellerfall, in dem die Weiche so gestellt war, dass bei natürlichem Verlauf der Dinge die Gleisarbeiter nie gefährdet gewesen wären. Sie waren bis zum Einschreiten des Notständlers nie mit den gefährdeten Menschen im Personenzug in einer Gefahrengemeinschaft. Erst durch das Einschreiten des Notständlers (Weichenstellers) wurden die unbeteiligten Gleisarbeiter zu Beteiligten des unheilvollen Geschehens; der Notständler also alleinig kausal für die Rechtsgutsgefährdung.
Im Unterschied hierzu sind Fälle bestehender Gefahrengemeinschaften unproblematisch. So etwa im obigen Fall „Schotten dicht“. Auch die Matrosen, die durch die Entscheidung des Kapitäns getötet wurden, waren schon von vornherein gefährdet oder „todgeweiht“, weil sie spätestens durch das Sinken des Schiffs aller Wahrscheinlichkeit nach gestorben wären. Hier hat sich der Notständler (Kapitän) also zwischen Menschenleben entschieden, die ohnehin gefährdet waren.
Das Gleiche gilt für den Flugzeugkaperung-Fall sowie den abgewandelten Bergsteiger-Fall.
Problem
Gefahrengemeinschaft als Voraussetzung des übergesetzlichen Notstands gemäß § 35 StGB analog
Eine Mindermeinung sieht die Gefahrengemeinschaft als zwingende Voraussetzung des übergesetzlichen Notstands. Es sei ethisch nie vertretbar, Unbeteiligte durch eigenes Wirken gezielt zu Opfern zu machen.
Die herrschende Meinung hingegen sieht die Gefahrengemeinschaft nicht als Voraussetzung. Einem Dritten darf nicht in jeder Situation zugemutet werden, sich dem natürlichen Verlauf der Dinge unterzuordnen, wenn größeres Unheil verhindert werden könnte, auch wenn dafür Unbeteiligte geopfert werden.
Stellungnahme: Es ist der herrschenden Meinung zu folgen. Beachtet man den Sinn und Zweck des § 35 StGB lässt er wegen vergleichbarer Interessenlagen auch Rückschlüsse auf den Sinn und Zweck der analogen Anwendung zu. Dieser liegt in beiden Fällen darin, dem Täter wegen einer außergewöhnlichen Zwangslage und persönlichen Konfliktsituation das schuldhafte Handeln abzusprechen, wenn sie gesellschaftlich und moralisch nachvollziehbar sind. Diese Konfliktsituation kann auch entstehen, wenn es sich bei dem geringeren Übel um Unbeteiligte handelt.
V. Gefahrabwendungswille
Ähnlich dem entschuldigenden Notstand nach § 35 StGB muss noch das subjektive Entschuldigungselement des übergesetzlichen Notstands (§ 35 StGB analog) in Form des Gefahrabwendungswillens vorliegen.
Definition
Der Gefahrabwendungswille liegt vor, wenn der Täter in Kenntnis der Gefahrenlage und mit dem Ziel der Gefahrenabwehr bezogen auf das größere Unheil gehandelt hat.
Anders als bei den subjektiven Rechtfertigungselementen sind bei den persönlichen Schuldausschließungsgründen die objektiven und subjektiven Entschuldigungselemente als gleichwertig anzusehen, weil das Erfolgs- bzw. Handlungsunrecht der Tat weder durch das objektive noch das subjektive Entschuldigungselement aufgehoben wird. Auf den Streit um die Frage der Rechtsfolge bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements kommt es folglich nicht an.
Klausurtipp
In der Klausur sollte kurz darauf eingegangen werden, dass die Rechtsprechung zusätzlich zum Gefahrabwendungswillen eine gewissenhafte Prüfung des Vorliegens der Notstandssituation durch den Täter verlangt. Hierauf wird es aber nur selten ankommen.
VI. Unzumutbarkeit
Eine weitere Besonderheit im Rahmen der Prüfung des übergesetzlichen Notstands ist die Unzumutbarkeitsklausel § 35 I 2 StGB analog. Hier hat der Gesetzgeber Sonderfälle im Rahmen des entschuldigenden Notstands normiert, die in analoger Anwendung auch für den übergesetzlichen Notstand gelten. Siehe hierzu den Artikel zu § 35 StGB.