I. Einführung
Grundsätzlich gilt, dass jeder die Verantwortung für seine Rechtsgüter trägt. Davon abweichend enthält das BGB verschiedene Gefahrtragungsregeln, die das Risiko für zufällige Risiken verteilen und - vereinfacht gesagt - bestimmen, welche Partei darunter leidet, dass bei der Abwicklung eines Vertrages etwas „schief“ geht. Da in Klausurkonstellationen nie alles „normal“ läuft, sind solche Regelungen daher oft relevant, denn im Kontext des Leistungsstörungs- und Mängelrechts geht es oft darum, dass eine Person leisten muss, aber nicht kann oder andere Personen einen Anspruch geltend machen wollen, den sie nicht haben. In solchen Fällen werden Gefahrtragungsregelungen relevant.
Merke
Ein „Zufall“ in diesem Sinne liegt dann vor, wenn keine Partei die Leistungsstörung zu vertreten hat oder wenn eine dritte (unabhängige) Person die Leistungsstörung zu vertreten hat.
Folgende Risiken können sich bei der Abwicklung eines Vertrages realisieren
- Risiko des Untergangs des Leistungsobjekts;
- Risiko der Verschlechterung des Leistungsobjekts;
- Risiko des Verlusts des Leistungsobjekts;
- Risiko der Verzögerung der Leistung.
II. Gefahrarten
Im Zivilrecht wird zwischen zwei Begriffen unterschieden:
Leistungsgefahr (oder auch: Sachgefahr)
Gegenleistungsgefahr (oder auch: Preisgefahr)

1. Leistungsgefahr
Die Leistungsgefahr trägt diejenige Person, die unter einer Störung der Leistung leidet. Das heißt:
Wenn der Anspruch des Gläubigers nicht oder nur schlecht erfüllt wird, trägt er die Leistungsgefahr, da er eine „gestörte“ Leistung oder sogar nichts erhält.
Muss der Schuldner trotz Störungen die Leistung erbringen, trägt er die Leistungsgefahr, denn obwohl er eigentlich an der ordnungsgemäßen Erfüllung gehindert ist, muss er die Leistung erbringen.
2. Gegenleistungsgefahr
Die Gegenleistungsgefahr trägt die Person, die etwas leisten muss, ohne selbst die Gegenleistung zu erhalten. Das heißt:
Verliert der Schuldner seinen Anspruch auf die Gegenleistung, obwohl er weiterhin leisten muss, trägt er die Gegenleistungsgefahr
Muss der Schuldner die Gegenleistung erbringen, obwohl der Schuldner nicht zur Leistung verpflichtet ist, trägt er die Gegenleistungsgefahr.
Definition
Risiko, den Anspruch auf die Gegenleistung zu verlieren beziehungsweise die Gegenleistung gleichwohl erbringen zu müssen, falls die Leistungspflicht entfällt.
3. Gesetzliche Begriffsverwendung
Das BGB selbst verwendet nur den Begriff „Gefahr“ - welche der beiden Arten gemeint ist, ist daher beim ersten Lesen nicht ganz klar.
Merke
§§ 270 II, 300 II BGB meinen den Begriff Leistungsgefahr. In den übrigen Fällen ist der Begriff Gegenleistungsgefahr gemeint.
Die gesetzlichen Gefahrtragungsregelungen dienen aber grundsätzlich nur als Auffangnormen für vertragliche Regelungen. Allerdings werden in der Praxis vertragliche Regelungen oft nur bei hohen Werten vereinbart oder wenn eine Partei eine Vielzahl gleicher oder gleichartiger Regelungen schließt. Damit muss faktisch oft auf die gesetzlichen Regelungen Rückgriff genommen werden.
III. Leistungsgefahr
Wie bereits dargestellt, können die Parteien auch vertragliche Regelungen treffen, um die Leistungsgefahr zu regeln. Das Gesetz enthält aber an verschiedenen Stellen Regelungen, die eine (teils implizite) Risikoverteilung regeln:
1. Stückschuld
Bei Stückschulden trägt die Leistungsgefahr, also das Risiko des „Untergangs“ der Leistung, stets der Gläubiger:
§ 275 BGB: Unmöglichkeitsregelungen
§ 439 IV BGB: Möglichkeit zur Verweigerung der Nacherfüllung durch den Schuldner
Merke
Dies ist nur logisch. Müsste der Schuldner über das konkrete „Stück“ hinaus leisten, hätte der Gläubiger gerade nicht die Gefahr, nicht an die Leistung zu kommen.
2. Gattungsschulden
Zunächst trägt bei Gattungsschulden der Schuldner die Leistungsgefahr. Diese geht aber in zwei Fällen auf den Gläubiger über:
Durch Konkretisierung (§ 243 II BGB)
Wenn der Gläubiger in Annahmeverzug gerät (§ 300 II BGB).
3. Geldschulden
Gemäß § 270 I BGB trägt die Leistungsgefahr grundsätzlich der Schuldner. Auch hier geht die Gefahr aber auf den Gläubiger über, wenn dieser in Annahmeverzug gerät (§ 300 II BGB analog).
Beispiel
Der Gläubiger erhält keine Zahlung, wenn das ihm angebotene Geld gestohlen wird oder anderweitig verloren geht. Geldschulden werden nicht konkretisiert, aber hätte der Gläubiger die Zahlung angenommen, hätte sich das Verlustrisiko nicht realisiert. Daher ist eine analoge Anwendung des § 300 II BGB erforderlich.
Gesetzesverweis
Sofern es in deinem Bundesland zulässig ist, zitiere dir den § 300 II BGB an den § 270 I BGB, um dich an diesen Zusammenhang zu erinnern.
IV. Gegenleistungsgefahr
Beachte zunächst, dass die Relevanz der Gegenleistungsgefahr natürlich davon abhängt, dass es überhaupt eine Gegenleistung gibt - dies ist bei synallagmatischen Verträgen der Fall.
Im Regelfall trägt der Schuldner der gestörten Leistung die Gegenleistungsgefahr.
Merke
Das heißt, er verliert seinen Anspruch auf die Gegenleistung, wenn er nicht mehr leisten muss - vgl. §§ 275, 326 I 1 Hs. 1 BGB.
Ausnahmen gelten in den folgenden Fällen, in denen die Gegenleistungsgefahr auf den Gläubiger übergeht:
§§ 446 I, 644 I 1 BGB (Folge der Übergabe/Abnahme bei Kauf- und Werkverträgen)
§§ 326 II 1 Fall 2, 446 S. 3, 615 S. 1, 644 I 2 BGB (Folgen des Annahmeverzugs)
§§ 447, 644 II BGB (Folgen der Versendung bei Kauf und Werkverträgen)
Merke
In diesen Fällen muss der Schuldner die Leistung nicht oder jedenfalls nicht mangelfrei erbringen und behält dennoch den Anspruch auf die Gegenleistung.
Die Gegenleistungsgefahr wird nur relevant, wenn der Schuldner nicht (ordnungsgemäß) leisten muss. Das heißt, dass nur wenn der Gläubiger der Leistung die Leistungsgefahr trägt, die Gegenleistungsgefahr übergeht. Ordnet eine Norm den Übergang der Gegenleistungsgefahr an (z. B.: §§ 446 f. BGB), geht spätestens zu dem angesprochenen Zeitpunkt auch die Leistungsgefahr auf den Gläubiger über.
V. Beispiele
1. Fall 1
Beispiel
Sachverhalt
Am Sonntag verkaufte V seinen Grüneberg an K und übergab ihn. Zahlung und Übereignung sollten heute im Kurs stattfinden. Der Grüneberg geht bei K durch Zufall unter.
Welche Ansprüche haben die Beteiligten?
Lösung
I. K -> V: § 433 I BGB
(-), da Übereignung unmöglich (§ 275 I BGB).
II. K -> V: §§ 280 I, III, 283 BGB
(-), da sich V trotz der Unmöglichkeit exkulpieren kann (§ 280 I 2 BGB), da die Unmöglichkeit durch Zufall entstand.
III. V -> K: § 433 II BGB
Grds. (-), da bei Unmöglichkeit Anspruch auf Gegenleistung entfällt (§ 326 I 1 Hs. 1 BGB). Das gilt aber nicht, wenn die Sache übergeben wurde und die Unmöglichkeit aufgrund von Zufall entstand (§ 446 BGB), so wie hier. Daher ist die Gefahr des Untergangs auf K übergegangen und dieser muss den Kaufpreis gemäß § 433 II BGB zahlen.
2. Fall 2
Beispiel
Sachverhalt
K bestellt bei Privatmann V einen Grüneberg. Der Grüneberg soll an K „frei Haus“ geliefert werden. Durch Fahrlässigkeit der Transportperson T, der nicht gewerblich handelt, wird der Grüneberg vernichtet.
Hat K einen Anspruch auf Lieferung und/oder Schadensersatz? Welche Ansprüche hat V gegen K?
Lösung
I. K -> V: § 433 I BGB
Hängt davon ab, ob die Übereignungspflicht unmöglich geworden ist (§ 275 I BGB). Das ist der Fall, wenn Konkretisierung eingetreten ist (§ 243 II BGB). Das hängt davon ab, ob bereits durch die Übergabe an T die Konkretisierung erfolgte: Wurde eine Schickschuld vereinbart, ist dies der Fall. Wurde eine Bringschuld vereinbart, ist Leistungsort bei K und somit wäre noch keine Konkretisierung erfolgt. Bei Lieferung „frei Haus“ geht es jedoch nur um eine Kostenregelung des Versands und nicht darum, den Leistungsort zu verlegen. Daher liegt eine Schickschuld vor und somit ist Konkretisierung eingetreten und die Übereignung wurde unmöglich. Somit besteht kein Anspruch des K auf Übereignung.
II. K -> V: §§ 280 I, III, 283 BGB
(-), da V sich exkulpieren kann (§ 280 I 2 BGB). Etwaiges Verschulden des T wird ihm nicht zugerechnet, da T kein Erfüllungsgehilfe war (§ 278 BGB), sondern V lediglich die Übergabe an diesen schuldete (Schickschuld).
III. V -> K: § 433 II BGB
Grds.(-) aufgrund des Wegfalls der Gegenleistungspflicht (§ 326 I 1 Hs. 1 BGB). Aber, da V aufgrund des Verlangens des K den Grüneberg via T versandte, ging die Gefahr des zufälligen (weder durch K noch durch V verschuldeten) Untergangs gemäß § 447 BGB auf K über. Somit kann V doch gemäß § 433 II BGB Kaufpreiszahlung verlangen.
3. Fall 3
Beispiel
Sachverhalt
Verbraucher K bestellt bei Unternehmer V einen Grüneberg, der an K „frei Haus“ versandt werden soll. Durch Fahrlässigkeit des Transporteurs T, der nicht gewerblich handelt, wird der Grüneberg vernichtet.
Hat V gegen K einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung?
Lösung
I. V -> K: § 433 II BGB
Grds. (-), da die Übereignung des Grüneberg unmöglich ist (§ 275 I BGB) und daher die Gegenleistungspflicht entfällt (§ 326 I 1 Hs. 1 BGB). Möglicherweise ging aber die Gefahr durch die Übergabe an T auf K über, sodass der Zahlungsanspruch doch bestehen bliebe (§ 447 BGB). Allerdings handelt es sich hier um einen Verbrauchsgüterkauf, sodass § 447 BGB keine Anwendung findet (§ 475 II BGB). Auch ein Gefahrübergang gemäß § 446 BGB ist nicht erfolgt, da weder die Übergabe an K stattfand (S. 1), noch K sich im Annahmeverzug befand (S. 3). Somit besteht kein Anspruch auf Kaufpreiszahlung aus § 433 II BGB.