I. Allgemeines
Das Rechtsstaatsprinzip ist in den Art. 20 II 2, III G und 28 I GG verankert, beziehungsweise ergibt sich aus der Auslegung dieser Normen.
Zitat
Art. 20 III GG
“Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.”
Art. 20 III GG bildet den Kernpunkt der Ableitung des Rechtsstaatsprinzips. Es wird die Bindung der drei Staatsgewalten an das Recht festgelegt:
Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, was bedeutet, dass der Gesetzgeber nur im Rahmen der Verfassung handeln darf.
Die Exekutive (vollziehende Gewalt) und Judikative (Rechtsprechung) sind an Gesetz und Recht gebunden. Das stellt sicher, dass Verwaltung und Gerichte nicht willkürlich handeln dürfen.
Dazu stellt Art. 20 II 2 den Grundsatz auf, dass die Staatsgewalt durch die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt werden.
Zitat
Art. 20 II 2 GG
“Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.”
Art. 28 I 1 GG regelt, dass das Rechtsstaatsprinzip auch auf Landesebene gilt. Dies ist die sogenannte Homogenitätsklausel.
Zitat
Art. 28 I 1 GG
“Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen”.
Dies ist relevant, da nach den Grundsätzen des Bundesstaatsprinzips Bund und Land zwei eigenständige Ebenen auf demselben Staatsgebiet sind.
Klausurtipp
Das Rechtsstaatsprinzip wird dir in verschiedenen Kontexten und Ausprägungen in fast jeder Klausur begegnen. Es stellt dabei nicht immer einen Schwerpunkt der Prüfung dar, die Grundsätze müssen aber klar verstanden und angewendet werden können.
II. Machtkonzentration des Staates
Wie gesehen, stellt Art. 20 II 2 GG den Grundsatz der Gewaltenteilung auf. Demnach wird die Staatsgewalt von den Organen der Gesetzgebung (Legislative), der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) ausgeübt. Ziel ist eine gegenseitige Kontrolle und Hemmung. Dabei besteht eine gegenseitige Unabhängigkeit voneinander.
1. Legislative
Die Legislative ist gesetzgebende Gewalt. Sie wird auf Bundesebene hauptsächlich von der Bundesregierung und dem Bundesrat ausgeführt, welche beide neben anderen ein Initiativrecht für Gesetzesvorschläge haben (Art. 76 I GG.)
Sie ist gemäß Art. 20 III GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Dies beinhaltet vor allem die Einhaltung der Verhältnismäßigkeit und die Rechtssicherheit, welche den Vertrauens- und den Bestimmtheitsgrundsatz einschließt.
a) Verhältnismäßigkeit
Alles zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit findest du in diesem Artikel.
b) Rechtssicherheit
Die Rechtssicherheit umfasst den Bestimmtheits- und den Vertrauensgrundsatz.
aa) Bestimmtheitsgrundsatz
Der Bestimmtheitsgrundsatz verpflichtet den Gesetzgeber, Normen so klar und präzise zu fassen, dass Bürger und Verwaltung die Rechtsfolgen vorhersehen können. Staatliches Handeln darf nur auf einer Norm beruhen, die Inhalt, Zweck und Grenzen der Eingriffsbefugnis erkennbar macht. Der Grad der Konkretisierung richtet sich dabei nach der Regelungsmaterie: Je intensiver der Eingriff in Rechtspositionen, desto höher das Bestimmtheitsniveau. Zu unbestimmte Normen sind verfassungswidrig oder bedürfen verfassungskonformer Auslegung, um die Vorhersehbarkeit staatlicher Maßnahmen zu gewährleisten.
Art. 80 I 2 GG konkretisiert das Gebot gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber: Er darf die Regelungskompetenz nicht schrankenlos an die Exekutive delegieren. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung müssen im Gesetz selbst erkennbar sein.
In Art. 103 II GG ist der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz (nullum crimen, nulla poena sine lege/„kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz“) normiert, welcher verlangt, dass Strafbarkeit und Strafe gesetzlich bestimmt sein müssen, bevor die Tat begangen wird. Aufgrund der besonders einschneidenden Folgen im Strafrecht sind hier die Anforderungen für Klarheit besonders hoch: Unbestimmte Straftatbestände sind unzulässig und eine analoge Anwendung einer strafrechtlichen Norm zulasten des Täters ist grundsätzlich ausgeschlossen.
Beispiel
Ein Gericht verurteilt eine Person wegen „digitaler Belästigung“, obwohl ein solcher Straftatbestand im Gesetz nicht existiert. Es leitet die Strafbarkeit durch analoge Anwendung aus dem Tatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB) ab.
Dies verstößt gegen Art. 103 II GG, da der Bürger nicht im Voraus erkennen konnte, dass sein Verhalten strafbar ist. Eine Analogie zu seinen Lasten ist unzulässig.
bb) Vertrauensgrundsatz
Der Vertrauensgrundsatz ist das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen. Dabei ist zwischen der echten Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen), welche grundsätzlich unzulässig ist, und der unechten Rückwirkung (Tatbestandliche Rückanknüpfung), welche grundsätzlich zulässig ist, zu unterscheiden.
Alle Informationen zum Vertrauensgrundsatz findest du in diesem Artikel.
2. Exekutive
Die Hauptaufgabe der Exekutive ist der Vollzug der Gesetze. Auf Bundesebene besteht sie aus der Bundesregierung (Art. 62 GG) und der nachgeordneten Verwaltung (Art. 83 ff. GG).
Bei exekutivem Handeln ist dabei immer der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu beachten. Darunter versteht man den Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes
a) Vorrang des Gesetzes
Die Verwaltung darf nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Ihr Handeln muss im Einklang mit der bestehenden Rechtsordnung stehen. Verstößt eine Maßnahme der Verwaltung gegen ein Gesetz, ist sie rechtswidrig und aufzuheben (z. B. durch Widerspruch oder Anfechtungsklage). Der Vorrang des Gesetzes bindet somit das Verwaltungshandeln negativ, also im Sinne eines Verbots rechtswidrigen Handelns.
b) Vorbehalt des Gesetzes
Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt, dass die Verwaltung bei hoheitlichen Maßnahmen grundsätzlich nur tätig werden darf, wenn sie durch oder aufgrund eines Gesetzes dazu ermächtigt worden ist. Es bedarf also immer einer Rechtsgrundlage. Hintergrund ist, dass nach dem Grundsatz des Art. 20 II 2 GG die Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Daher bedarf jedes staatliche Handeln einer demokratischen Rückbindung an das Parlament. Eine hoheitliche Maßnahme ohne formell-gesetzliche Grundlage würde diese Legitimationskette unterbrechen.
Problem
Begünstigende Maßnahmen der Verwaltung (Leistungsverwaltung)
Umstritten ist, ob auch begünstigende Maßnahmen der Verwaltung (also Maßnahmen im Rahmen der Leistungsverwaltung) unter den Vorbehalt des Gesetzes fallen und damit einer Rechtsgrundlage bedürfen. Hierzu werden verschiedene Ansichten vertreten.
Lehre vom Totalvorbehalt:
Nach der Lehre vom Totalvorbehalt bedarf jedes staatliche Handeln (und damit auch Maßnahmen der Leistungsverwaltung) einer gesetzlichen Grundlage.
Lehre vom Eingriffsvorbehalt:
Nach der Lehre vom Eingriffsvorbehalt bedürfen dagegen nur Eingriffe in Freiheit und Eigentum einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, nicht dagegen die Gewährung von Leistungen.
Vermittelnde Ansicht: Nach der vermittelnden Ansicht reicht für typische Subventionen die Bereitstellung der Mittel im Haushaltsgesetz, es sei denn, Leistungen greifen grundrechtsgleich in Positionen Dritter ein (etwa Wettbewerbschancen aus Art. 12 I GG).
Die Rechtsprechung tendiert zur vermittelnden Linie: Grundsätzlich genügt die haushaltsrechtliche Parlamentsentscheidung, doch bei grundrechtssensiblen Leistungen (Beispiel: selektive Wirtschaftsförderung, die Konkurrenten benachteiligt) verlangt sie eine speziellere gesetzliche Grundlage.
Klausurtipp
Praktisch schlägt sich das in jeder verwaltungsrechtlichen Prüfung nieder: Fehlt es an einer einschlägigen Rechtsgrundlage, ist die Maßnahme bereits aus formellen Gründen rechtswidrig.
3. Judikative
Die Judikative nimmt im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips die zentrale Kontroll- und Schutzfunktion ein. Nach Art. 20 III GG ist sie, wie alle staatlichen Gewalten, an Recht und Gesetz gebunden. Ihre besondere Bedeutung liegt in der Sicherung des Rechts gegen staatliche Willkür und der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes.
Zitat
Art. 92 GG
“Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.”
Die Richter kontrollieren insbesondere die Tätigkeit der Exekutive, aber auch die der Legislative, auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 20 III GG, also ob sich die Exekutive an Recht und Gesetz und die Legislative an die Verfassung (verfassungsmäßige Ordnung) gehalten hat.
Eine Voraussetzung dafür ist, dass Richter persönlich und sachlich unabhängig sind. Dies regelt Art. 97 I GG.
Zitat
Art. 97 I GG
“Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.”
4. Durchbrechungen der Gewaltenteilung
Das dargestellte Trennungsprinzip der Gewalten wird in der Realität aber nicht immer strikt eingehalten, insbesondere nicht im Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive. Der Grund hierfür liegt vor allem im parlamentarischen Regierungssystem. Dies sieht eine enge institutionelle und personelle Verflechtung von Regierung und Parlament vor: Der Bundeskanzler wird vom Bundestag gewählt (Art. 63 GG) und kann durch ein konstruktives Misstrauensvotum wieder abgewählt werden (Art. 67 GG). Die Bundesregierung ist daher auf die politische Unterstützung der Parlamentsmehrheit angewiesen, was zu einer funktionalen Zusammenarbeit zwischen Exekutive und den sie tragenden Bundestagsfraktionen führt.
Diese Verzahnung äußert sich unter anderem darin, dass es rechtlich zulässig und politisch üblich ist, dass Mitglieder der Bundesregierung zugleich dem Bundestag angehören. Bundeskanzler und Bundesminister dürfen also parallel ein Abgeordnetenmandat ausüben, was eine personelle Verbindung zwischen beiden Gewalten darstellt.

III. Grundrechte als Abwehrrechte
Neben den genannten Normen ist auch Art. 1 III GG im Rahmen des Rechtsstaatlichkeitsprinzips relevant.
Zitat
Art. 1 III GG
“Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.”
Art. 1 III GG verankert die Grundrechte als verbindliche rechtliche Schranken für alle Staatsgewalten und sichert so deren Einhaltung im Sinne des Rechtsstaatsprinzips.
Daraus ergeben sich folgende Aspekte:
Verbindlichkeit der Grundrechte für alle Staatsgewalten
Justiziabilität von Grundrechtsverstößen
Grundrechte als Maßstab der Gesetzgebung
Grundrechtsbindung als Ausdruck materieller Rechtsstaatlichkeit
Zentral im Vordergrund steht dabei also die Gewährleistung persönlicher Absicherung von Freiheitssphären des Bürgers gegenüber dem Staat und deren Sicherung und Durchsetzung.
IV. Weitere Ausprägungen
1. (Effektiver) Rechtsschutz, Art. 19 IV 1 GG
Art. 19 IV 1 GG stellt das Gebot des effektiven Rechtsschutzes, bzw. die Rechtsweggarantie auf.
Zitat
Art. 19 IV 1 GG
“Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.”
a) Bedeutung und Reichweite
Diese verkörpert das rechtsstaatliche Leitbild, dass niemand einer hoheitlichen Maßnahme schutzlos ausgeliefert sein darf. Wo immer Exekutive oder sonstige Träger öffentlicher Gewalt in subjektive Rechte eingreifen, muss ein unabhängiges Gericht angerufen werden können. Der Anspruch umfasst zum einen den Zugang zu einem Gericht, zum anderen einen effektiven Rechtsschutz: Das Gericht hat den Sachverhalt und die Rechtslage grundsätzlich vollständig zu prüfen, wenn erforderlich, Akteneinsicht zu gewähren und seine Entscheidung durchsetzbar auszugestalten. Vorläufiger Rechtsschutz, etwa durch einstweilige Anordnungen, gehört ebenso dazu, weil der Grundrechtsschutz sonst leerliefe, sobald sich die Maßnahme erledigt hat.
Nicht jede staatliche Tätigkeit fällt dabei unter den Begriff der „öffentlichen Gewalt“. Er erfasst vor allem das hoheitliche Handeln der Verwaltung. Reine Tätigkeiten der Rechtsprechung sowie Parlamentsgesetze unterliegen dagegen nur verfassungsrechtlichen Kontrollmöglichkeiten. Insofern sichert Art. 19 IV GG den Rechtsschutz durch, nicht gegen die Justiz.
Die Garantie wirkt subjektiv-rechtlich und steht allen natürlichen Personen sowie in- und ausländischen juristischen Personen zu, soweit sie Träger eines öffentlichen Rechts sind. Ausgenommen sind in der Regel Körperschaften des öffentlichen Rechts, es sei denn, ihnen kommt Grundrechtsfähigkeit zu (Universitäten, Rundfunkanstalten).
Grenzen und Sicherungen
Weil effektiver Rechtsschutz nur greift, wenn belastende Entscheidungen überhaupt gerichtlich überprüfbar sind, verbietet Art. 19 I 1 GG grundrechtsverkürzende Einzelfallgesetze. Würde der Gesetzgeber Rechte unmittelbar durch ein singuläres Gesetz beschneiden, fehlte dem Betroffenen regelmäßig der Instanzenzug, den Art. 19 IV GG gewährleisten will. Zulässig sind Einzelfallgesetze daher nur, wenn sie keine Grundrechte einschränken oder aufgrund spezieller Verfassungsnormen (z. B. Art. 14 III GG bei Legalenteignungen) ausdrücklich gestattet sind.
Schließlich darf auch ein vom Gesetz eingeräumter Beurteilungsspielraum der Verwaltung nicht zur Aushöhlung des Rechtsschutzes führen. Solche Spielräume sind verfassungsrechtlich nur in eng begrenzten Bereichen haltbar und müssen gesetzlich festgelegt, sachlich gerechtfertigt und letztlich einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich bleiben. So garantiert Art. 19 IV GG, zusammen mit dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch des Rechtsstaatsprinzips, dass staatliche Macht stets durch die unabhängige Rechtsprechung gebändigt wird.
2. Justizgrundrechte
Da gerichtliche Entscheidungen die Maßnahmen der anderen Gewalten kontrollieren, entfalten sie eine abschließende Wirkung und können tiefgreifend in die Rechte des Einzelnen eingreifen. Daher garantiert das Grundgesetz spezielle Verfahrensgrundrechte im Bereich der Justiz.
Art. 101 S. 1 GG sichert das Recht auf den gesetzlichen Richter. Dies bedeutet, dass die gerichtliche Zuständigkeit im Voraus durch allgemeine und nachvollziehbare Regelungen festgelegt sein muss. Für den Bürger muss erkennbar sein, welches Gericht in seinem Fall entscheidet.
Art. 103 I GG gewährleistet das rechtliche Gehör. Das bedeutet, dass Gerichte verpflichtet sind, die Argumente und Tatsachenbehauptungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, sie anzuhören und sich in der Urteilsfindung damit auseinanderzusetzen.
3. Staatshaftung
Die Staatshaftung ist ein wesentliches Instrument zur Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips. Sie stellt sicher, dass rechtswidriges oder schuldhaftes staatliches Handeln nicht unsanktioniert und allgemein folgenlos bleibt, sondern der Staat grundsätzlich für rechtsverletzende Eingriffe in Individualrechte zivilrechtlich haftet. Für ausführliche Informationen zum Staatshaftungsrecht inklusive der einzelnen Anspruchsgrundlagen siehe hier.