I. Einführung
Culpa in contrahendo (c.i.c.) oder auch Verschulden beim Vertragsschluss ist ein gewohnheitsrechtlich anerkanntes Rechtsinstitut, das eine Haftung für die Verletzung vorvertraglicher Pflichten begründet.
Merke
Das ist nicht selbstverständlich! Denn natürlich bedarf es einer wie auch immer gearteten vertraglichen Grundlage, die eine Haftung begründet. Denn wer keinen Vertrag schließt, soll grundsätzlich nicht (quasi-)vertraglich haften müssen, da auch keine Leistungspflichten gemäß § 241 I BGB bestehen, gegen die verstoßen werden kann. Eine Regelung für derartige vorvertraglich Pflichtverletzungen wurde in § 311 II BGB geschaffen.
Die Anspruchsgrundlage setzt sich aus mehreren Normen zusammen: §§ 280 I, 241 II, 311 II, III BGB.
Merke
§ 280 I BGB ist die Generalnorm für die vertraglichen Schadensersatzansprüche. Da mangels eines wirksamen Vertrags keine Hauptleistungspflichten bestehen, können sich die Ansprüche nur aus Pflichten nach § 241 II ergeben. § 311 II regelt nämlich, dass diese Pflichten auch vor Vertragsschluss bestehen können, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind.
1. Zweck
Die Notwendigkeit für die Haftung bei Verletzung vorvertraglicher Pflichten ergab sich aus Unzulänglichkeiten des Deliktsrechts. Das Deliktsrecht sieht keine allgemeine Haftung für fahrlässige Vermögensverletzungen vor. Außerdem muss der Geschädigte das Verschulden des Schädigers nachweisen und der Geschäftsherr kann sich bei Fehlverhalten von Mitarbeitern nach § 831 I 2 BGB exkulpieren. All das führte dazu, dass Schutzlücken im Haftungsgefüge bestanden.
2. Inhalt
Das Rechtsinstitut der culpa in contrahendo ist nur unvollständig in den §§ 241 II, 311 II BGB geregelt und wird vor allem durch die Rechtsprechung konkretisiert.
Bei Vorliegen der Voraussetzungen entsteht ein gesetzliches Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 II BGB. Andere Rechte können daraus nicht hergeleitet werden, da vor Vertragsschluss keine Leistungspflichten bestehen, sondern nur Nebenpflichten im Sinne des § 241 II BGB.
Der Inhalt des Schadensersatzanspruches aus §§ 280 I, 241 II, 311 II, III BGB richtet sich in der Regel auf den Ersatz des Vertrauensschadens, also auf das negative Interesse (§ 122 I BGB).
Definition
Vertrauensschaden ist der Schaden, den jemand dadurch erleidet, dass er darauf vertraut hat, dass der andere seinen vorvertraglichen Pflichten im Sinne des § 241 II BGB nachkommen werde.
Der Geschädigte ist bei Verletzung der vorvertraglichen Pflichten so zu stellen, als hätte kein geschäftlicher Kontakt stattgefunden.
II. Voraussetzungen

1. Schuldverhältnis
a) Schuldverhältnis nach § 311 II BGB
Ein Schuldverhältnis entsteht gemäß § 311 II BGB durch:
1. die Aufnahme von Vertragsverhandlungen,
2. die Anbahnung eines Vertrages (Vorfeld von Vertragsverhandlungen, z. B. unverbindliche Gespräche, Informationsbesuch)
3. ähnliche geschäftliche Kontakte (v.a. Gefälligkeitsverhältnisse mit rechtsgeschäftlichen Charakter)
Bereits der Eintritt in Vertragsverhandlungen begründet demnach eine Sonderverbindung zwischen den Beteiligten und damit erhöhte Sorgfaltspflichten, für deren Verletzung der Schuldner haftbar gemacht werden kann. Der Begriff der Vertragsverhandlungen ist dabei weit zu fassen. Diese enden erst, wenn die Verhandlungen entweder endgültig abgebrochen wurden oder wenn es zu einem Vertragsschluss kommt.
b) Schuldverhältnis nach § 311 III BGB
Nach § 311 III BGB kann ein vertragsähnliches Schuldverhältnis auch zu Personen entstehen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen. Dritte können daher anspruchsberechtigt oder umgekehrt einem Anspruch aus c.i.c. ausgesetzt sein.
Klausurtipp
Nach der Rechtsprechung ist die Eigenhaftung der Dritten besonders restriktiv zu handhaben und sollte daher abseits der klassischen Fälle nicht vorschnell angenommen werden.
aa) Besonderes persönliches Vertrauen
Ein solches Schuldverhältnis entsteht nach § 311 III 2 BGB insbesondere, wenn der Dritte in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst.
Voraussetzung ist, dass der Dritte besonders sachkundig ist und sich aus den Umständen ergibt, dass er die persönliche Gewähr übernimmt. Da es sich regelmäßig um Vertreter handelt, spricht man insofern auch von der Vertreter-Eigenhaftung. Das Gesetz stellt aber ausdrücklich klar, dass „Dritte“ haften können, also insbesondere auch vertreterähnliche Personen (bspw. Verhandlungsgehilfen).
Beispiel
Anwalt, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Makler, Autohändler.
Vertreterähnliche Personen: Gebrauchtwagenkauf bei Verkäufer. Der Käufer bringt einen Bekannten mit, der Gutachter ist und alle Fragen im Zusammenhang mit dem Autokauf beantwortet. Der Gutachter nimmt dabei als Verhandlungsgehilfe besonderes persönliches Vertrauen in Anspruch.
bb) Hohes wirtschaftliches Eigeninteresse
Daneben wird eine Vertreter-Eigenhaftung auch begründet, wenn ein hohes wirtschaftliches Eigeninteresse besteht. Obwohl diese Fallgruppe nicht ausdrücklich in § 311 III BGB normiert wurde, besteht sie weiterhin fort, was durch die Verwendung von „insbesondere“ deutlich wird.
Beispiel
Gesellschafter einer Einmann-GmbH
2. Rechtspflichten
a) Schutz- und Rücksichtspflichten, § 241 II BGB
Durch das (vorvertragliche) Schuldverhältnis nach § 311 III BGB entsteht mit Pflichten nach § 241 II BGB. Andere Rechte können daraus nicht hergeleitet werden.
Umfang und Ausmaß der Schutz- und Rücksichtspflichten richten sich nach dem Schutzbedürfnis derer, die einen gesteigerten sozialen Kontakt riskiert haben.
b) Aufklärungs- und Informationspflichten
Daneben sind auch Aufklärungs- und Informationspflichten denkbar.
Beispiel
Aufklärung über Umstände, die die Kaufsache betreffen, wie z. B. Mängel.
III. Fallgruppen
In der Rechtsprechung haben sich folgende Fallgruppen entwickelt:

1. Verletzung von Schutzpflichten
Beispiel
Jemand rutscht beim Einkaufen in der Gemüseabteilung auf einem Gemüseblatt aus und zieht sich Verletzungen zu. Der Geschädigte hat Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens.
2. Verletzung von Aufklärungspflichten und Beratungspflichten
Beispiel
Verschweigen von Tatsachen, die nach § 242 BGB aufklärungspflichtig sind.
Der Geschädigte hat Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens. Wäre bei pflichtgemäßem Verhalten der erstrebte Vertrag zustande gekommen, hat der Geschädigte einen Anspruch auf das Erfüllungsinteresse. Er hat jedoch keinen Anspruch auf Abschluss eines entsprechenden Vertrages.
3. Schuldhafte Täuschung
C.i.c. ist (nur) neben dem Anfechtungsrecht aus § 123 BGB anwendbar, da der Täuschende in diesem Fall nicht schutzwürdig ist, nicht aber neben den sonstigen Anfechtungsgründen aus §§ 119 ff. BGB.
Die Rechtsfolge hängt dabei von der Folge des pflichtwidrigen Vertrages ab.
a) Aufhebung des Vertrages
War die Folge des pflichtwidrigen Verhaltens ein Vertragsschluss, besteht ein Anspruch auf Aufhebung des Vertrages. Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung auch bei fahrlässiger Täuschung.
Beispiel
Verharmlosung der Risiken von Sicherungsgeschäften (etwa einer Bürgschaft oder Verpfändung)
b) Vertragsanpassung
Wäre der Vertrag ohne das pflichtwidrige Verhalten zu günstigeren Bedingungen zustande gekommen, bestünde ein Anspruch auf Anpassung des Vertrages.
c) Entgangener Gewinn
Hätte der Geschädigte den Vertrag mit einem anderen geschlossen, hätte er Anspruch auf den aus diesem Vertrag entgangenen Gewinn.
4. Gefälligkeitsschuldverhältnisse
Beispiel
Unternehmer A überlässt Unternehmer B aus Gefälligkeit den Fahrer F, der jedoch über keine Erfahrung mit schweren Lastwagen verfügt. F beschädigt deshalb einen LKW des B. Solche Gefälligkeitsverhältnisse zwischen A und B ohne primäre Leistungspflichten können ähnliche geschäftliche Kontakte im Sinne des § 311 II Nr. 3 BGB sein. Gegebenenfalls ist der Sorgfaltsmaßstab analog §§ 521, 599 BGB auf grobe Fahrlässigkeit zu mildern.
5. Verwendung unwirksamer AGB
Der Verwender von AGB kann durch die Verwendung unwirksamer Klauseln seine vorvertragliche Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber seinem Vertragspartner verletzen und sich bei Verschulden diesem gegenüber schadensersatzpflichtig machen, wenn der Vertragspartner in Unkenntnis der Unwirksamkeit der Klausel Aufwendungen tätigt.
6. Verbraucherschützende Informationspflichten
Verletzt ein Unternehmer verbraucherschützende Informationspflichten aus §§ 312a, 312d, 312j II BGB, haftet er aus c.i.c.
7. Elektronischer Geschäftsverkehr
Verletzt ein Unternehmer seine Informationspflichten aus § 312i I Nr. 2 BGB haftet er aus c.i.c.
IV. Haftung für Erfüllungsgehilfen
Der Geschäftsherr haftet gemäß § 278 BGB auch für das Verschulden aller Personen, deren er sich zur Vertragsanbahnung bedient.
Beispiel
Überschreitung der Vertretungsmacht
Arglistige Täuschung durch Gehilfen
Ebenfalls zugerechnet wird ihm analog § 166 I BGB das Wissen von Hilfspersonen, die während der Verhandlungen anwesend sind, ohne in diese einzugreifen.