Dieser Artikel behandelt die Freiheitsberaubung nach § 239 StGB. Die Freiheitsberaubung ist als sogenanntes Dauerdelikt regelmäßig Grundlage für Probleme im Rahmen der Konkurrenz, wenn ein Dauerdelikt ein sogenanntes Zustandsdelikt trifft. Mehr dazu findest du im Artikel zu den Konkurrenzen. Jedenfalls muss die Grundkonzeption des § 239 StGB als häufigstes in Frage kommendes Dauerdelikt verstanden werden. Die Examensrelevanz ist als “mittel” einzustufen.
I. Allgemein
§ 239 StGB eröffnet den 18. Abschnitt des StGB “Straftaten gegen die persönliche Freiheit” zwar nicht, ist aber das erste Delikt des Abschnitts, das wirkliche Examensrelevanz aufweist. Vorangehende Delikte wie Menschenhandel (§ 232 StGB), Zwangsprostitution (§ 232a StGB), Zwangsarbeit (§ 232b StGB), Zwangsheirat (§ 237 StGB) oder Nachstellung (§ 238 StGB) sind im Examen erfahrungsgemäß von geringerer Relevanz, daher wird hier § 239 StGB als Grundlage für den Einstieg in den 18. Abschnitt dargestellt. § 239 StGB schützt die persönliche Fortbewegungsfreiheit.
Umstritten ist, ob auch die potenzielle persönliche Fortbewegungsfreiheit geschützt ist.
Merke
Schützt § 239 StGB auch die potenzielle persönliche Fortbewegungsfreiheit?
Herrschende Meinung (potenzielle Fortbewegungsfreiheit): Nach überwiegender Ansicht schützt § 239 StGB bereits die allgemeine Möglichkeit, sich frei fortzubewegen – auch dann, wenn der Betroffene sich gerade nicht bewegen will. Die Norm erfasst damit die grundsätzliche Freiheit, den Aufenthaltsort jederzeit nach Belieben ändern zu können.
Argument: Die Bewegungsfreiheit ist ein elementares Freiheitsrecht; nur der Schutz der potenziellen Fortbewegungsfreiheit verhindert, dass der Täter allein deshalb straflos bleibt, weil das Opfer zufällig gerade keinen aktuellen Fortbewegungswillen gefasst hatte.Mindermeinung (tatsächlicher Wille): Eine Freiheitsberaubung liege nur vor, wenn der Betroffene sich tatsächlich fortbewegen will. Fehlt ein entsprechender aktueller Wille, sei die Bewegungsfreiheit nicht betroffen.
Argument: § 239 StGB schütze die konkrete Entschlussfreiheit, nicht die abstrakte Möglichkeit, den Ort zu wechseln.Stellungnahme: Die herrschende Meinung überzeugt. § 239 StGB schützt die grundsätzliche Freiheit, jederzeit über den eigenen Aufenthaltsort zu verfügen. Diese Freiheit besteht unabhängig davon, ob der Betroffene sich gerade bewegen möchte. Nur der Schutz der potenziellen Fortbewegungsfreiheit gewährleistet eine sachgerechte und praktikable Anwendung des § 239 StGB, da sonst unvertretbare Zufallsergebnisse entstünden. Entscheidend ist daher nicht der aktuelle Wille, sondern die objektiv gegebene Möglichkeit, sich frei fortzubewegen.
Beispiel
Die eifersüchtige Freundin T will verhindern, dass ihr Freund F abends feiern geht und schließt die Wohnungstür ab, während F sich drinnen befindet. T kommt erst am nächsten Morgen von ihrer Nachtschicht zurück und schließt wieder auf. F hatte es sich jedoch längst anders überlegt, den Abend mit der Playstation verbracht und gar nicht bemerkt, dass er eingeschlossen war.
H.M.: Freiheitsberaubung (+), weil schon die potenzielle Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen, ausgeschlossen war.
Mindermeinung: keine Freiheitsberaubung, da F sich tatsächlich nicht fortbewegen wollte.
Merke
Die gleiche Problematik stellt sich bei schlafenden oder bewusstlosen Personen, die zur Zeit des Einsperrens keinen Willen bilden konnten.
Weil § 239 StGB ein Dauerdelikt ist, dessen tatbestandlicher Erfolg also in einer andauernden rechtswidrigen Situation liegt, ist bei weiteren Tatbeteiligten immer an eine sukzessive Beteiligung (zeitlich nachgeschaltet/nach Beginn der Tatausführung) zu denken.
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Lies dir hierfür die folgenden Artikel durch:
zur sukzessiven Mittäterschaft: Artikel zur Mittäterschaft
zur sukzessiven Beihilfe: Artikel zur Beihilfe
Bei § 239 I StGB handelt es sich um ein Vergehen i.S.d. § 12 II StGB und nicht um ein Verbrechen i.S.d. § 12 I StGB, sodass sich die Versuchsstrafbarkeit gerade nicht aus § 12 I StGB i.V.m. § 23 I Hs. 1 StGB ergibt, sondern aus der extra angeordneten Versuchsstrafbarkeit in § 239 II StGB.
Bei der Qualifikation nach § 239 III Nr. 1 StGB verhält es sich jedoch anders. Hier ergibt sich die Versuchsstrafbarkeit aus der erhöhten Strafandrohung, womit § 239 III Nr. 1 StGB ein Verbrechen nach § 12 I StGB ist und § 23 I Hs. 1 StGB Anwendung findet.
Bei § 239 III Nr. 2 und IV StGB handelt es sich um Erfolgsqualifikationen. Mehr zum Versuch der Erfolgsqualifikation findest du im Artikel zu den Erfolgsqualifikationen.
1. Systematik
§ 239 I StGB ist der Grundtatbestand.
Bei § 239 III Nr. 1 StGB handelt es sich um eine einfache Qualifikation zu § 239 I StGB.
§ 239 III Nr. 2 StGB und § 239 IV StGB handelt es sich um Erfolgsqualifikationen zu § 239 I StGB
§ 240 I StGB ist ein eigener Grundtatbestand, für den in § 240 IV StGB Regelbeispiele vorgesehen sind.

2. Prüfungsschema

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Zum Schema der Prüfung von Erfolgsqualifizierungen siehe den Artikel zur Erfolgsqualifikation.
II. Tathandlung
1. Einsperren
Definition
Einsperren meint das Verhindern des Verlassens eines Raumes durch äußere Vorrichtungen oder sonstige Vorkehrungen.
2. Auf sonstige Weise der Freiheit berauben
Definition
„Auf sonstige Weise“ meint jedes Tun oder Unterlassen, das ohne Einsatz von Gewalt oder Drohung dazu führt, dass die Fortbewegungsfreiheit eines Menschen vollständig aufgehoben wird und er tatsächlich gehindert ist, seinen Aufenthaltsort zu verlassen.
3. Anforderungen an die Freiheitsberaubung
Durch den Begriff des „Beraubens“ wird deutlich, dass die Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit gegen den Willen des Betroffenen erfolgen muss; ein Einverständnis schließt § 239 StGB daher aus.
Merke
Es handelt sich hierbei also nicht um eine rechtfertigende Einwilligung, sondern um ein tatbestandsausschließendes Einverständnis. Mehr zur Abgrenzung findest du im Artikel zur rechtfertigenden Einwilligung.
Darüber hinaus genügt für die tatbestandsmäßige Beeinträchtigung nicht nur vis absoluta wie Einsperren oder Fesseln – auch das Errichten einer psychischen Sperre (z. B. Vorhalten einer Waffe) kann ausreichend sein, sofern die Überwindung für das Opfer unzumutbare Gefahren birgt, weil es mit einer Gefahr für Leib oder Leben rechnet, sodass die Drohung wie eine phsysische Sperre wirkt.
Zuletzt ist zu beachten, dass die Einschränkung der Bewegungsfreiheit zudem von gewisser Erheblichkeit sein muss. Ganz kurzfristige Eingriffe („ein Vaterunser lang“) genügen nicht; erforderlich ist eine Freiheitsentziehung, die über ein bloß momentanes Festhalten hinausgeht und ein eigenes Gewicht hat.
4. Freiheitsberaubung durch Unterlassen
Eine Freiheitsberaubung kann auch durch Unterlassen begangen werden, wenn den Täter eine Garantenstellung trifft (§ 13 StGB). Entscheidend ist, dass der Garant rechtlich dafür einzustehen hat, die Fortbewegungsfreiheit des Opfers zu schützen oder eine bereits eingetretene Einschränkung zu beenden. Unterlässt er dies pflichtwidrig, kann das „Einsperren“ auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Typische Fälle sind hier Konstellationen, in denen der Täter das Opfer zunächst unbemerkt einschließt, es dann aber unterlässt, das Opfer wieder freizulassen.
Beispiel
V schließt morgens die Wohnungstür ab, ohne zu bemerken, dass ihr Mitbewohner M noch schläft. Als V später erfährt, dass M in der Wohnung eingeschlossen ist und dringend zu einem Arzttermin muss, unterlässt sie es bewusst, die Tür zu öffnen, obwohl sie die einzige Person mit einem Schlüssel ist. M bleibt mehrere Stunden eingeschlossen.
V begeht eine Freiheitsberaubung durch Unterlassen, da sie als Garantin verpflichtet ist, die bestehende Einschließung zu beenden. Vorliegend liegt eine Garantenstellung aus Ingerenz vor, da V sich beim Verlassen der Wohnung pflichtwidrig nicht versichert, ob noch jemand in der Wohnung ist.
III. Subjektiver Tatbestand
Im Rahmen des subjektiven Tatbestands ist zu prüfen, ob der Täter hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale mindestens mit dolus eventualis gehandelt hat.
IV. Qualifikation: Freiheitsberaubung von über einer Woche (§ 239 III Nr. 1 StGB)
Eine besonders schwere Freiheitsberaubung liegt vor, wenn der Täter das Opfer länger als eine Woche seiner Fortbewegungsfreiheit beraubt. Entscheidend ist die ununterbrochene Dauer der Tat: Die Freiheitsentziehung muss ohne zwischenzeitliche Wiedererlangung der Bewegungsfreiheit über einen Zeitraum von mehr als sieben vollen Tagen andauern. Unerheblich ist, ob das Opfer währenddessen leidet, Gefahr ausgesetzt ist oder ob die Situation „erträglich“ erscheint – allein die massive zeitliche Intensität der Tat begründet die Qualifikation.
Merke
Hintergrund der Vorschrift ist der Gedanke, dass eine derart lange Freiheitsentziehung regelmäßig zu erheblichen physischen und psychischen Belastungen führt und deshalb besonders strafwürdig ist.
V. Erfolgsqualifikationen
1. § 239 III Nr. 2 StGB – schwere Gesundheitsschädigung
Eine besonders schwere Freiheitsberaubung liegt auch vor, wenn das Opfer durch die Tat eine schwere Gesundheitsschädigung erleidet. Inhaltlich orientiert sich die Vorschrift zwar an den in § 226 StGB genannten schweren Folgen (z. B. Verlust wichtiger Körperfunktionen, dauerhafte Entstellungen), geht aber darüber hinaus!
Merke
Eine schwere Gesundheitsschädigung meint sämtliche erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, die in ihrer Intensität an die Folgen des § 226 StGB heranreichen oder diese übertreffen.
Zu beachten ist jedoch zum einen, dass Fahrlässigkeit hinsichtlich der Herbeiführung der schweren Folge genügt, und zum anderen der bei Erfolgsqualifikationen notwendige spezifische Gefahrzusammenhang: Die Gesundheitsbeeinträchtigung muss gerade auf der Freiheitsberaubung beruhen und eine gravierende, nicht nur vorübergehende Verletzung darstellen.
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Mehr zu den Erfolgsqualifikationen im Allgemeinen findest du hier.
2. § 239 IV StGB – Tod des Opfers
Führt die Freiheitsberaubung zum Tod des Opfers, tritt eine weitere schwere Folge im Rahmen der Erfolgsqualifikation nach § 239 IV StGB ein. Der Tod muss jedoch auch hier auf der Freiheitsentziehung beruhen, wobei die Anforderungen an den tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhang den allgemeinen Grundsätzen der Erfolgsqualifikationen entsprechen. Erfasst werden sowohl direkte Folgen (z. B. Tod durch Verdursten in einem verschlossenen Raum) als auch mittelbare Verläufe, sofern sich im Tod gerade die der Freiheitsberaubung innewohnende spezifische Gefahr realisiert.
VI. Rechtswidrigkeit
Im Rahmen der Rechtswidrigkeit sind die allgemeinen Rechtfertigungsgründe heranzuziehen. Besonderheiten ergeben sich vor allem bei zwei Rechtfertigungsgründen:
Erlaubte Selbsthilfe (§ 229 BGB):
Unter engen Voraussetzungen kann eine kurzfristige Festhaltung gerechtfertigt sein, wenn sie zur Sicherung eines fälligen Anspruchs erforderlich ist. Die Grenzen sind eng, da die Maßnahme verhältnismäßig bleiben muss.
Vorläufige Festnahme (§ 127 I StPO):
Jedermann ist berechtigt, einen auf frischer Tat Betroffenen festzuhalten, wenn Fluchtgefahr besteht. In diesen Fällen scheidet eine Rechtswidrigkeit aus, sofern die Festnahme erforderlich und maßvoll durchgeführt wird.
VII. Schuld
Im Rahmen der Schuld sind keine Besonderheiten zu beachten. Allerdings sollte die strafrechtliche Irrtumslehre beachtet werden.
VIII. Strafzumessung: § 239 V StGB – minder schwerer Fall
Nach § 239 V StGB kann trotz Erfüllung des Tatbestands ein minder schwerer Fall angenommen werden. Die Vorschrift eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, im Hinblick auf die konkreten Tatumstände, die Intensität der Freiheitsentziehung sowie die persönlichen Verhältnisse des Täters den Strafrahmen nach unten zu verschieben. Maßgeblich ist eine Gesamtwürdigung, bei der insbesondere kurze, nur leicht belastende Freiheitsentziehungen, spontane Impulstaten oder fehlende Schädigungsabsicht zugunsten des Täters berücksichtigt werden können.
IX. Konkurrenzen
Wie bereits dargestellt, handelt es sich bei § 239 StGB um ein Dauerdelikt. Somit ist die Tat nicht schon mit dem Einsperren beendet, sondern dauert so lange an, bis das Opfer die Freiheit wiedererlangt. Dies hat weitreichende Folgen für die Konkurrenzen:
Tateinheit (§ 52 StGB): Delikte, die der Täter während der andauernden Freiheitsberaubung gegen das Opfer begeht (z. B. Körperverletzung, Nötigung, sexuelle Übergriffe), stehen regelmäßig in Tateinheit zur Freiheitsberaubung, da sie zeitlich und situativ zusammenfallen.
Klammerwirkung: § 239 StGB kann mehrere, an sich selbstständige Taten zu einer einzigen Tat im rechtlichen Sinne verbinden.
Beispiel
Sachverhalt
T sperrt O morgens ein. Vormittags schlägt er O (Tat 1), nachmittags beleidigt er O (Tat 2).
Lösung:
Eigentlich stünden Körperverletzung und Beleidigung in Tatmehrheit (§ 53 StGB). Da aber die Freiheitsberaubung „über“ beiden Taten liegt und sie zeitlich umschließt, werden alle drei Delikte (KV, Beleidigung, Freiheitsberaubung) durch die „Klammer“ des § 239 StGB zur Tateinheit verbunden.
Verhältnis zur Nötigung (§ 240 StGB): Dient die Gewalt oder Drohung lediglich dazu, die Freiheitsberaubung zu ermöglichen (z. B. das Opfer in den Keller drängen), tritt die Nötigung als bloßes Mittel regelmäßig hinter § 239 StGB zurück (Spezialität). Nötigt der Täter das Opfer während der Haft jedoch zu anderen Handlungen oder Duldungen, besteht Tateinheit (§ 52 StGB).


