Dieser Artikel behandelt die schwere Körperverletzung nach § 226 StGB. Die Examensrelevanz ist wie bei nahezu jedem Körperverletzungsdelikt als sehr hoch einzustufen. Auch im Rahmen des § 226 StGB sind viele grundlegende Definitionen und Meinungsstreitigkeiten zu beherrschen, die zum Grundwissen eines jeden Examenskandidaten, aber auch eines jeden Jurastudenten ab dem zweiten Semester gehören. Darüber hinaus ist § 226 StGB das Paradebeispiel für eine Erfolgsqualifikation.
Es wird empfohlen, zunächst die Artikel zu § 223 StGB, § 224 StGB und zu den Erfolgsqualifikationen durchzuarbeiten.
I. Allgemeines
§ 226 StGB ist dem 17. Abschnitt des StGB „Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“ zugeordnet und schützt das Rechtsgut körperliche Unversehrtheit.
Bei § 226 StGB handelt es sich anders als beim Grundtatbestand des § 223 StGB oder der Qualifikation nach § 224 StGB nicht um ein Vergehen i.S.d. § 12 II StGB, sondern um ein Verbrechen i.S.d. § 12 I StGB, sodass sich die Versuchsstrafbarkeit aus § 12 I StGB i.V.m. § 23 I Hs. 1 StGB ergibt und nicht etwa aus einer extra angeordneten Versuchstrafbarkeit wie etwa bei §§ 223 II, 224 II StGB.
Die schwere Körperverletzung ist dabei eine Erfolgsqualifikation zur einfachen Körperverletzung nach § 223 StGB. § 226 StGB hebt sich dabei aufgrund der besonderen Gefährlichkeit durch das Herbeiführen schwerer Folgen ab.
Relevant ist ebenfalls noch § 226 II StGB: Hierbei handelt es sich um eine Qualifikation zu Absatz 1, wobei der Unterschied nur in der spezifischen Schuldform (also bei den Anforderungen an den subjektiven Tatbestand) liegt (dazu weiter unten im subjektiven Tatbestand).
1. Prüfungsschema

II. Grundtatbestand, § 223 StGB
Zunächst muss der Grundtatbestand des § 223 StGB erfüllt sein. Es muss also eine körperliche Misshandlung oder eine Gesundheitsschädigung vorliegen. Diesbezüglich kann vollständig auf die Ausführungen im Artikel zu § 223 StGB verwiesen werden.
III. Erfolgsqualifikation, § 226 StGB
Sodann muss der Erfolgsqualifikationstatbestand geprüft werden. Dieser besteht dann nur aus dem objektiven Tatbestand, wenn der Täter die schwere Folge fahrlässig hervorgerufen hat, also kein Vorsatzvorwurf gemacht werden kann. Insofern der Täter jedoch nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich gehandelt hat, muss zusätzlich der subjektive Tatbestand eingebaut und die vorsätzliche Begehung geprüft werden (dazu weiter unten unter “Subjektiver Tatbestand”).
1. Objektiver Tatbestand
a) Eintritt der schweren Folge
Zunächst ist zu prüfen, ob eine objektive schwere Folge der Nummern 1 - 3 eingetreten ist. Dabei ist zwischen den verschiedenen Tatbestandsvarianten innerhalb der jeweiligen Nummern zu unterscheiden!
Merke
Wie immer bei Tatbeständen mit mehreren Tatbestandsalternativen, -modifikationen oder -varianten ist hier sauber das Gesetz zu zitieren!
aa) Nr. 1: Verlust von Fähigkeiten
§ 226 I Nr. 1 StGB stellt eine Körperverletzung unter höhere Strafe, bei der das Opfer wichtige Fähigkeiten (Sehen, Hören, Sprechen, Fortpflanzen) verliert und so erhebliche Lebensbeeinträchtigungen erfährt.
Definition
Verlust im Allgemeinen liegt in diesem Sinne nur dann vor, wenn das Leistungsvermögen ganz aufgehoben oder jedenfalls praktisch aufgehoben ist.
aaa) Var. 1: Verlust des Sehvermögens
Definition
Der Verlust des Sehvermögens liegt vor, wenn die Fähigkeit, mit mindestens einem Auge Gegenstände – selbst auf kurze Distanz – zu erkennen, dauerhaft aufgehoben ist; reine Lichtempfindlichkeit genügt nicht.
Merke
Der Verlust muss dauerhaft sein – eine nur vorübergehende Beeinträchtigung, die sich etwa durch eine Heilbehandlung wieder beheben lässt, reicht für die Tatbestandsverwirklichung nicht aus.
bbb) Var. 2: Verlust des Gehörs
Definition
Der Verlust des Gehörs liegt vor, wenn die Fähigkeit, artikulierte Laute akustisch wahrzunehmen, vollständig oder nahezu vollständig dauerhaft aufgehoben ist.
Umstritten ist dabei, ob Nr. 1 Var. 2 auch verwirklicht ist, wenn man nur auf einem Ohr das Gehör im oben genannten Sinne verliert:
Problem
Verwirklichung von § 224 I Nr. 1 StGB bei Verlust des Gehörs nur auf einem Ohr?
Eine Mindermeinung bejaht die Tatbestandsverwirklichung bereits bei einseitigem Gehörverlust. Auch der Verlust des Hörvermögens auf einem Ohr stelle eine erhebliche Beeinträchtigung dar, die dem Schutzgedanken der Norm gerecht werde.
Die herrschende Meinung fordert hingegen den Verlust des Gehörs insgesamt, also auf beiden Ohren. Nur dann sei die Fähigkeit zur Wahrnehmung artikulierter Laute vollständig – oder zumindest praktisch – aufgehoben.
Stellungnahme: Die herrschende Meinung überzeugt. Ein Blick auf den Wortlaut der Vorschrift zeigt: Während bei den Augen ausdrücklich „auf einem Auge“ genügt, fehlt eine solche Differenzierung beim Gehör. Daraus ist zu schließen, dass der Gesetzgeber hier bewusst nur den vollständigen Gehörverlust erfassen wollte.
ccc) Var. 3: Verlust des Sprechvermögens
Definition
Der Verlust des Sprechvermögens liegt vor, wenn die Fähigkeit, sich durch artikulierte Laute verständlich zu machen, dauerhaft aufgehoben ist – bloßes Stottern reicht dafür nicht aus.
ddd) Var. 4: Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit
Definition
Der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit liegt vor, wenn die zum Tatzeitpunkt bestehende Fähigkeit, sich fortzupflanzen, durch die Körperverletzung dauerhaft aufgehoben wird.
Diese Variante ist insbesondere in Fallkonstellationen relevant, in denen Gewalt gegen Schwangere ausgeübt wird:
Beispiel
M erfährt, dass seine Ehefrau F von einem anderen Mann schwanger ist. In blinder Wut schlägt er gezielt auf ihren Bauch ein – mit dem Ziel, eine Fehlgeburt herbeizuführen, um später selbst ein Kind mit ihr zu zeugen. Die Schläge führen tatsächlich zu einer Fehlgeburt, bei der es zu Komplikationen kommt, infolge derer F ihre Fortpflanzungsfähigkeit dauerhaft verliert.
In diesem Fall liegt eine schwere Folge im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 StGB vor. Hinsichtlich der Körperverletzung hat M vorsätzlich gehandelt, nicht aber hinsichtlich der schweren Folge – also des Verlusts der Fortpflanzungsfähigkeit.
Da M nicht damit rechnete, dass seine Frau infolge der Gewalt dauerhaft unfruchtbar wird (er wollte ja gerade später mit ihr ein Kind zeugen), nahm der M den Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit gerade nicht in Kauf, sodass es ihm am Vorsatz hinsichtlich der schweren Folge fehlt.
Allerdings hat M diese Folge objektiv und subjektiv fahrlässig herbeigeführt, sodass § 18 StGB greift und M wegen schwerer Körperverletzung strafbar ist.
bb) Nr. 2: Wichtiges Körperglied
§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB stellt den Verlust oder die dauernde Gebrauchsunfähigkeit eines wichtigen Körpergliedsunter erhöhte Strafe.
aaa) Var. 1: Verlust
Definition
Der Verlust eines wichtigen Körperglieds liegt vor, wenn es physisch vom Körper abgetrennt wurde, wobei eine reine Gebaruchsunfähigkeit ohne Abtrennung nicht genügt.
bbb) Var. 2: Dauernde Gebrauchsunfähigkeit
Definition
Eine dauernde Gebrauchsunfähigkeit liegt vor, wenn das Körperglied seine Funktion auf Dauer nicht mehr erfüllen kann, ohne dass es körperlich entfernt wurde.
ccc) Wichtiges Körperglied
Bei der Prüfung ist zwischen dem Begriff „Körperglied“ und dem Kriterium „wichtig“ zu unterscheiden.
Einigkeit besteht über die Definition des Körperglieds:
Definition
Ein Körperglied ist ein nach außen in Erscheinung tretender Körperteil, der mit dem Rumpf oder einem anderen Körperteil durch ein Gelenk verbunden ist.
Merke
Damit sind nach h.M. keine inneren Organe umfasst.
ddd) Streitfrage: Wann ist ein Körperglied „wichtig“?
Neuerdings umstritten ist jedoch, wie die Wichtigkeit des Körperteils zu bestimmen ist:
Beispiel
Konzertpianist P hat Schulden bei Mafiaboss B. Der B - bekannt für seine Gewaltexzesse bei “säumigen Schuldnern” - begibt sich zu P und hackt ihm zur Einschüchterung den kleinen Finger ab.
Problem
Bestimmung der Wichtigkeit eines Körperglieds:
Nach h.L. ist die Wichtigkeit objektiv zu bestimmen. Es kommt darauf an, ob das Körperglied für den Gesamtorganismus eine wesentliche Funktion erfüllt.
Nach neuerer Rechtsprechung ist die Wichtigkeit subjektiv zu bestimmen. Entscheidend ist, welche individuelle Bedeutung das Körperglied für das konkrete Opfer im Alltag oder Beruf hat.
Stellungnahme: Die subjektive Betrachtung überzeugt. Sie trägt dem Gedanken Rechnung, dass der Begriff „wichtig“ nicht abstrakt zu verstehen ist, sondern sich am Einzelfall und der Lebenssituation des Opfers orientieren muss. Ein Körperglied, das im Alltag oder im Beruf zentral gebraucht wird, verdient besonderen Schutz – unabhängig davon, ob es für den Gesamtorganismus unentbehrlich ist. </aside>
Für obigen Fall bedeutet dies:
Nach h.L. liegt keine schwere Körperverletzung i.S.d. § 226 I Nr. 2 StGB vor, weil der kleine Finger objektiv keine zentrale Funktion für den Gesamtorganismus als solchen erfüllt.
Nach der Rechtsprechung liegt sehr wohl eine schwere Körperverletzung i.S.d. § 226 I Nr. 2 StGB vor – gerade weil für einen Pianisten der kleine Finger von erheblicher individueller Bedeutung ist.
cc) Nr. 3: Dauerhafte Entstellung oder dauerhaftes Verfallen
§ 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB stellt die dauerhafte erhebliche Entstellung sowie das dauernde Verfallen in bestimmte Krankheitszustände unter erhöhte Strafe.
aaa) Var. 1: Erhebliche und dauerhafte Entstellung
Die erste Tatvariante setzt voraus, dass die verletzte Person „in erheblicher Weise dauernd entstellt“ wird. Dabei sind die beiden Begriffe „dauernd entstellt“ und „in erheblicher Weise“ voneinander zu unterscheiden:
Definition
Eine dauernde Entstellung liegt vor, wenn das äußere Erscheinungsbild einer Person nachhaltig und deutlich unästhetisch verändert wird – maßgeblich ist dabei der Eindruck des Gesamterscheinungsbilds.
Erheblich ist die Entstellung, wenn sie auffällig ins Gewicht fällt und das äußere Erscheinungsbild des Opfers spürbar entstellt.
Merke
Die Erheblichkeit wird insbesondere danach beurteilt, wie die Entstellung auf Dritte wirkt – etwa ob sie beim Gegenüber Ekel, Abscheu oder Spott auslöst oder dem Opfer ein normales gesellschaftliches Auftreten erschwert.
bbb) Var. 2: Siechtum
Die zweite Tatvariante setzt voraus, dass die verletzte Person in Siechtum verfällt.
Definition
Siechtum ist ein chronischer Zustand körperlicher oder psychischer Entkräftung, der auf dauerhafte Krankheitsprozesse zurückgeht und eine allgemeine Hinfälligkeit mit sich bringt, deren Heilung nicht absehbar ist.
Beispiel
Das Opfer ist durch starke körperliche Misshandlungen pflegebedürftig.
Das Opfer ist hinfolge einer fortgeschrittenen Hirnschädigung nach einem Schädel-Hirn-Trauma nicht mehr in der Lage sich über einen gewissen Zeitraum zu konzentrieren, sodass vollständige Arbeitsunfähigkeit besteht.
ccc) Var. 3: Lähmung
Die dritte Tatvariante setzt voraus, dass die verletzte Person in Lähmung verfällt.
Definition
Lähmung ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit eines Körperteils, die so gravierend ist, dass sie den Gesamtorganismus mit in Mitleidenschaft zieht und zu einem dauerhaften Verfallen in einen Lähmungszustand führt.
Beispiel
Querschnittslähmung
halbseitige Lähmung
Lähmung beider Beine
Gesichtslähmung
ddd) Var. 4: Geistige Krankheit oder Behinderung
Die vierte Tatvariante setzt voraus, dass die verletzte Person in geistige Krankheit oder (geistige) Behinderung verfällt. Mit “Behinderung” ist also nur die gesitige Behinderung gemeint, was man auch daran erkennen kann, dass der Gesetzgeber die körperlichen Behinderungen in Nr. 1 und 2 deutlich präziser geregelt hat.
Das Verfallen in geistige Behinderung ist dabei gegenüber der geistigen Krankheit subsidiär.
Definition
Verfallen in eine geistige Krankheit liegt vor, wenn beim Opfer eine schwerwiegende psychische Störung eintritt, die dauerhaft ist und den Zustand eines krankhaften seelischen Ausnahmezustands erreicht – etwa Schizophrenie, schwere Depression oder Wahnsinn.
Verfallen in eine geistige Behinderung liegt vor, wenn das Opfer infolge der Tat dauerhaft erheblich in seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, ohne dass eine krankhafte seelische Störung im engeren Sinn vorliegt.
b) Kausalität und objektive Zurechnung
Hinsichtlich dieses Prüfungspunktes kann auf die Artikel zur Kausalität und zur objektiven Zurechnung verwiesen werden.
c) Tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang
Hinsichtlich des tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhangs kann auf die Ausführungen im Artikel zur Erfolgsqualifikation verwiesen werden.
d) Objektive Fahrlässigkeit, § 18 StGB
Hinsichtlich der schweren Folgen muss gemäß § 18 StGB “wenigstens Fahrlässigkeit” vorliegen.
Hier kann auf die Ausführungen im Artikel zu den Erfolgsqualifikationen verwiesen werden.
Der Wortlaut der Vorschrift macht aber auch klar, dass der Täter auch vorsätzlich bzgl. der schweren Folge handeln kann. Insofern Vorsatz (zumindest dolus eventualis) hinsichtlich der schweren Folge vorliegt, muss die Fahrlässigkeit abgelehnt und im Anschluss der subjektive Tatbestand geprüft werden.
2. Subjektiver Tatbestand
Insofern der Täter nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich handelt, sind mehrere Besonderheiten zu beachten:
Problematik des erfolgsqualifizierten Versuchs und der Versuch der Erfolgsqualifikation (siehe hierzu den Artikel zu den Erfolgsqualifikationen)
Handelt der Täter mit dolus eventualis, ist Abs. 1 einschlägig.
Handelt der Täter mit dolus directus 1. oder 2. Grades, ist die Qualifikation des Abs. 2 einschlägig.
a) Dolus eventualis (Abs. 1)
§ 226 I StGB i.Vm. § 18 StGB ist eine Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination. Der Täter braucht hinsichtlich des Grundtatbestandes wenigstens dolus eventualis, hinsichtlich der schweren Folge wenigstens Fahrlässigkeit. Handelt der Täter über die Mindestanforderung (fahrlässige Begehung) hinaus mit dolus eventualis, erkennt er also die Möglichkeit des Eintritts der schweren Folge und nimmt diese billigend in Kauf, ist § 226 I StGB einschlägig.
b) Dolus directus 1. und 2. Grades (Abs. 2 - Qualifikationstatbestand)
§ 226 II StGB ist hingegen ein qualifizierendes reines Vorsatzdelikt, welches bzgl. der schweren Folge sogar dolus directus 1. oder zumindest 2. Grades vorschreibt. Die Qualifikation ist also allein durch den höheren Schuldvorwurf begründet:
Der Täter weiß sicher, dass die schwere Folge durch die beigebrachte Körperverletzung eintreten wird (sicheres Wissen / Dolus directus 2. Grades) oder
dem Täter kommt es sogar gerade auf die Herbeiführung der schweren Folge an (Absicht / dolus directus 1. Grades).
Damit erfordert § 226 II StGB eine Sonderform des Vorsatzes, da es gerade nicht ausreicht, den Erfolg nur billigend in Kauf zu nehmen.
Merke
Mindestfreiheitsstrafe bei fahrlässigem Verursachen oder bei Handeln mit Eventualvorsatz: 1 Jahr
Mindestfreiheitsstrafe bei Handeln mit Absicht oder sicherem Wissen: 3 Jahre

IV. Rechtswidrigkeit
Im Rahmen der Rechtswidrigkeit ist insbesondere die rechtfertigende Einwilligung zu beachten, die für Eingriffe in die körperliche Integrität ausdrücklich in § 228 StGB geregelt ist. Darüber hinaus sind alle weiteren Rechtfertigungsgründe zu beachten.
V. Schuld
Im Rahmen der Schuld ist bei fahrlässiger Herbeiführung der schweren Folge die subjektive Fahrlässigkeit zu prüfen.


