Wer Jura studiert, lernt nicht einfach nur Gesetze auswendig. Vielmehr erschließt man sich ein komplexes System, in dem Begriffe, Normen, Dogmen und Prinzipien auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind.
Das juristische Denken lebt von Struktur, Systematik und Abstraktionsfähigkeit. Genau hier setzt das Konzept des vernetzten Lernens an: Es geht darum, juristische Inhalte nicht isoliert, sondern im Zusammenhang zu betrachten, systematisch zu verknüpfen, gezielt zu speichern und strukturiert wiederzugeben.
Ein solcher Zugang vertieft nicht nur das Verständnis – er hilft auch dabei, in der Prüfungssituation schneller und sicherer zu argumentieren sowie effizienter zu lernen.
Was bedeutet vernetztes Lernen?
Vernetztes Lernen bedeutet, Normen, Theorien und Prinzipien systematisch miteinander zu verknüpfen, sodass beim Auftreten eines juristischen Problems automatisch verschiedene Anknüpfungspunkte aktiviert werden.
Diese Lerntechnik ist besonders auf das Jurastudium zugeschnitten, da sie genau das trainiert, was in der Klausur verlangt wird: das schnelle und treffsichere Erkennen von Zusammenhängen.
Vernetzt Lernen mit Constellatio
Die in diesem Artikel vorgestellten Beispiele und Lerntechniken stammen aus unserer Web-App Constellatio, die genau darauf ausgerichtet ist, vernetztes Denken im Jurastudium zu fördern. Mithilfe interaktiver Callouts werden gezielt Bezüge zwischen Normen, Prinzipien und Problemfeldern sichtbar gemacht.
Alle im Artikel aufgeführten Beispiele sind direkt unseren Fällen oder Lexikonartikeln entnommen und Teil unseres didaktischen Gesamtkonzepts.
Signalwörter als Ankerpunkte
Ein einfacher und zugleich effektiver Einstieg in das vernetzte Lernen ist die Arbeit mit Signalwörtern. Solche Begriffe sind häufig themenübergreifend angelegt und aktivieren automatisch verschiedene rechtliche Kontexte. Wer beispielsweise auf den Begriff „Werkzeug“ stößt, sollte unmittelbar mehrere Assoziationen abrufen können:
die Werkzeugtheorie im Rahmen der actio libera in causa (Strafrecht),
die mittelbare Täterschaft, bei der der Vordermann als „Werkzeug“ instrumentalisiert wird (Strafrecht),
der Besitzdiener im Sachenrecht, der als menschliches Werkzeug handelt,
sowie § 142 StGB: Wer ein Fahrzeug lediglich als Werkzeug verwendet, um einen vorsätzlichen Aggressionsakt zu begehen, begeht keinen Unfall im Sinne des § 142 StGB – die Norm ist dann nicht anwendbar.
Rechtliche Konstrukte verknüpfen
Ein zentraler Begriff im Strafrecht ist der Doppelvorsatz – er begegnet in verschiedenen Konstellationen wie der Anstiftung, der Beihilfe, der Mittäterschaft sowie der actio libera in causa. Wer diesen Begriff einmal durchdrungen hat, kann das erworbene Wissen flexibel auf unterschiedliche Zusammenhänge übertragen.
Diese Art des vernetzten Denkens lässt sich auch auf andere Rechtsgebiete anwenden:
So wird die Abgrenzung von Bedingung und Auflage im öffentlichen Recht – ebenso wie die Auslegung von Willenserklärungen im Zivilrecht – anhand der §§ 133, 157 BGB vorgenommen. In beiden Fällen kommt es auf den objektiven Erklärungswert und den erkennbaren Willen des Erklärenden an.
Auch das Prinzip der Teilnichtigkeit von Verträgen folgt im öffentlichen und privaten Recht demselben Grundgedanken: § 59 III VwVfG entspricht inhaltlich § 139 BGB.
Wiederkehrende Streitfragen erkennen
Ein klassisches Beispiel für eine wiederkehrende Streitfrage ist das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements. Diese Problematik stellt sich in zahlreichen Konstellationen: bei der Notwehr (§ 32 StGB), dem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), der Einwilligung und mutmaßlichen Einwilligung sowie bei der Festnahme nach § 127 StPO.
Wer diesen Komplex einmal durchdrungen hat, kann das erworbene Verständnis kontextübergreifend und sicher anwenden.
Systematik durch Gesetzesverweise
Eine einfache, aber wirkungsvolle Methode zur Vertiefung systematischer Zusammenhänge ist das Anbringen von Gesetzesverweisen am Rand des Gesetzestextes (sofern dies in deinem Bundesland zulässig ist). Durch solche Randnotizen lassen sich inhaltlich zusammenhängende Normen direkt miteinander verknüpfen – visuell und gedanklich.
Ein Beispiel ist der Eigentumserwerb in Verbindung mit den jeweils passenden Gutglaubensvorschriften im BGB:
Neben § 929 BGB kann man § 932 BGB notieren,
neben § 930 BGB den Hinweis auf § 933 BGB und
bei § 931 BGB einen Verweis auf § 934 BGB.
Auch im Verwaltungsrecht ist dieses Vorgehen hilfreich, etwa im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 V VwGO. An den Rand von § 80 II Nr. 3 VwGO (Entfall der aufschiebenden Wirkung bei gesetzlicher Anordnung) lassen sich folgende ergänzende Vorschriften notieren:
§ 4 XI StVG (keine aufschiebende Wirkung bei Führerscheinentzug),
§ 212a BauGB (keine aufschiebende Wirkung bei Rechtsbehelfen Dritter gegen eine Baugenehmigung),
§ 64 IV NPOG (keine aufschiebende Wirkung bei Zwangsmittelandrohung oder -festsetzung).
Ein weiteres Beispiel: Neben § 113 II Nr. 1 StGB kann man § 244 I Nr. 1a StGB vermerken – beide enthalten die Formulierung „bei sich führen“ und ermöglichen so einen vergleichenden Zugriff auf den Begriff sowie damit zusammenhängende Problematiken.
Gedankengänge strukturieren
Das Visualisieren von Prüfungsabläufen mithilfe von Schaubildern hilft dabei, logische Verknüpfungen zwischen verschiedenen Normen besser zu erfassen und einzuprägen.
Ein Beispiel bietet die Prüfung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen im Strafrecht:
Wird im Rahmen der Notwehrprüfung (§ 32 StGB) keine geeignete Verteidigungshandlung erkannt, sollte automatisch an § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) gedacht werden.
Scheidet dieser aufgrund eines Abwägungsverstoßes aus, ist § 35 StGB (entschuldigender Notstand) zu prüfen.
Ist auch dieser nicht anwendbar, etwa weil die betroffene Person nicht zum privilegierten Personenkreis gehört, bleibt als letzte Möglichkeit der Rückgriff auf den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand.
Gerade bei solchen Prüfungsketten ist es hilfreich, den Gedankengang grafisch in einem Schaubild darzustellen – das fördert das systematische Verständnis und die Abrufbarkeit im Examen.

Theorien mit gleichem Aufbau
Einige dogmatische Theorien begegnen in unterschiedlichen Rechtsgebieten – mit identischem Aufbau, aber in variierter Anwendung. Wer den Grundmechanismus einmal verstanden hat, kann ihn kontextübergreifend nutzen.
Ein Beispiel ist die Drei-Stufen-Theorie:
Sie spielt eine Rolle im Grundrechtsschutz bei Art. 12 GG – differenziert wird zwischen Berufsausübung, subjektiven Zulassungsvoraussetzungen und objektiven Zulassungsvoraussetzungen.
In ähnlicher Struktur begegnet sie in der Notwehrdogmatik bei der Frage der Einschränkung der Erforderlichkeit beziehungsweise Gebotenheit – bei Verwendung einer tödlichen Waffe, offensichtlicher Schuldlosigkeit des Angreifers und Provokation durch den Verteidiger.
Auch die Äquivalenztheorie sowie der Schutzzweck der Norm sind zentrale Bestandteile sowohl im Deliktsrecht als auch im Strafrecht, jeweils im Rahmen der Kausalitätsprüfung.
Sprachähnliche Begriffe als Merkhilfe
Anstiftung, Aufstiftung, Abstiftung, Umstiftung – im Rahmen des Spezialfalls des „omnimodo facturus“: Wer sich diese Wortfelder bewusst macht, lernt effektiver.
Merkhilfen und Eselsbrücken nutzen
KEBAP – Fallgruppen für den Ausschluss der Gebotenheit der Notwehrhandlung:
K = Krasses Missverhältnis
E = Enge persönliche Beziehung
B = Bagatellangriffe
A = Angriff auf Schutzlose
P = Provokation
DESHA – Ausschlussgründe bei objektiver Zurechnung:
D = Dazwischentreten Dritter
E = Eigenverantwortliche Selbstgefährdung
S = Schutzzweck der Norm
H = Hypothetisch rechtmäßiges Alternativverhalten
A = Atypischer Kausalverlauf
Einheitliche Grundstruktur – flexible Anwendung
Viele Schemata im Recht ähneln sich im Aufbau – häufig unterscheiden sie sich nur in einzelnen Prüfungspunkten. Wer diese Grundstrukturen erkennt, kann durch den gezielten Austausch einzelner Elemente effizient lernen.
So unterscheidet sich das Schema der Teilnahme bei Anstiftung und Beihilfe nur im Teilnahmeakt:
Bei der Anstiftung ist ein „Bestimmen zur Tat“ erforderlich,
bei der Beihilfe genügt ein „Hilfeleisten“.
Der übrige Aufbau – inklusive des Doppelvorsatzes – bleibt identisch!
Auch bei den meisten Rechtfertigungsgründen ist das Grundschema gleich:
Notwehrlage – Notwehrhandlung – subjektives Rechtfertigungselement.
Lediglich einzelne Punkte müssen angepasst werden:
etwa die Interessenabwägung beim rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB)
versus die Gebotenheit bei der Notwehr (§ 32 StGB).
Im Zivilrecht folgen Gestaltungsrechte wie Anfechtung oder Kündigung regelmäßig dem gleichen Aufbau:
Erklärung – Grund – Frist.
Hier müssen wiederum nur die Unterpunkte ausgetauscht werden (etwa die entsprechenden Anfechtungs- oder Kündigungsgründe).
Auch die Prüfung nach § 823 BGB orientiert sich am strafrechtlichen Dreischritt:
Tatbestand – Rechtswidrigkeit – Schuld
Modulares Lernen
Gerade im Strafrecht zeigt sich das Potenzial modularen Lernens besonders deutlich. Einzelne Prüfungselemente – wie objektiver Tatbestand, subjektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld, Versuch oder Rücktritt – lassen sich wie Bausteine flexibel zusammensetzen und je nach Delikt individuell anpassen.
Beispiel: Steht bei einem Totschlag nach § 212 I StGB eine mögliche Rechtfertigung im Raum, muss das Tatbestands-Schema um die Prüfung von Notwehr (§ 32 StGB) erweitert werden. Erst durch diese Verknüpfung mehrerer Schemata ergibt sich eine vollständige und systematische Lösung.



Fazit: Vernetztes Lernen als juristisches Denken
Wer vernetzt lernt, bereitet sich nicht nur auf das Examen vor – sondern auf das juristische Denken selbst.
Es geht um mehr als das bloße Wiedergeben von Schemata: Entscheidend ist das Verstehen von Zusammenhängen. Und genau das ist es, was Juristinnen und Juristen langfristig auszeichnet.