Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem strafrechtlichen Versuch. Der Versuch hat im Strafrecht eine hohe Klausurrelevanz. Er bietet sich nicht nur wegen seines besonderen Prüfungsaufbaus an, sondern auch, weil sich im Kontext der Versuchsstrafbarkeit einiger Delikte viele Probleme auftun. Der Versuch ist nicht nur im Zusammenhang mit dem vorsätzlichen Begehungsdelikt relevant. Vielmehr kann die Versuchsprüfung auch mit den unechten Unterlassungsdelikten und den Erfolgsqualifikationen gekoppelt werden.
I. Allgemeines
Grundsätzlich geht das StGB davon aus, dass die Vollendung einer Straftat zur Strafbarkeit führt. Allerdings stellt das Gesetz für eine Vielzahl von Delikten in der Strafnorm selbst oder in Verbindung mit Normen aus dem allgemeinen Teil auch den Versuch unter Strafe. Wie sich die Strafbarkeit des Versuchs begründet, muss daher in der Vorprüfung festgestellt werden.
Klausurtipp
Eine Strafbarkeit aus Versuch muss immer dann in Erwägung gezogen werden, wenn der objektive Tatbestand einer Norm nicht erfüllt ist, obwohl der Sachverhalt eindeutig auf die Norm anspielt.
1. Unterschiede im Prüfungsaufbau
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Der Aufbau des Versuchs besteht ähnlich dem vorsätzlichen Begehungsdelikt ebenfalls aus objektiven Elementen (unmittelbares Ansetzen) und subjektiven Elementen (Tatentschluss).
Der Unterschied zum vollendeten Delikt besteht aber nicht nur in der Bezeichnung der Prüfungspunkte und Definitionen. Beim Versuch wird zuerst der subjektive Tatbestand (Tatentschluss) und erst danach der objektive Tatbestand (unmittelbares Ansetzen) geprüft. Das liegt daran, dass die Versuchsstrafbarkeit durch die subjektive Ebene begründet wird. Der Wortlaut des § 22 StGB spricht nämlich davon, dass der Täter “nach seiner Vorstellung“ von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt hat. Das bedeutet, dass sich der Täter vorgestellt haben muss, den Tatbestand des in Frage kommenden Delikts in Gänze zu verwirklichen. Teilweise objektiv muss hingegen beurteilt werden, ob der Täter unmittelbar zur Tat angesetzt hat.
2. Versuchsstrafbarkeit unterschiedlicher Deliktsarten
Der strafbare Versuch eines Delikts ergibt sich nicht nur beim Regelfall des vorsätzlichen Begehungsdeliktes. Unterschiede im Aufbau ergeben sich etwa durch die Kombination der Module “Prüfungsschema Versuch” und “Prüfungsschema Unterlassungsdelikt”.
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Was genau mit modularem Arbeiten im Strafrecht gemeint ist, kannst du dir im Grundlagenartikel noch einmal durchlesen.
Besonderheiten, die die Deliktsart oder die Frage Täterschaft/Teilnahme betreffen, werden in den entsprechenden Artikeln behandelt:
Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt (§ 13 StGB)
Versuch bei der Erfolgsqualifikation
Versuch und Regelbeispiel
Versuch und Mittäterschaft (§ 25 II StGB)
Versuch und mittelbare Täterschaft (§ 25 I Alt. 2 StGB)
Versuch und Anstiftung (§ 26 StGB) bzw. Beihilfe (§ 27 StGB)
Versuch der Beteiligung (§ 30 StGB)
Merke
Einen fahrlässigen Versuch gibt es nicht. Das heißt, dass etwa der Versuch einer fahrlässigen Körperverletzung nicht strafbar ist. Das liegt daran, dass der Täter hinsichtlich des Taterfolgs Tatentschluss, also Vorsatz aufweisen muss. Wer die Gesundheitsschädigung (§ 223 I StGB) herbeiführen will, kann sie nicht gleichzeitig “nur” fahrlässig herbeiführen “wollen”. Besonderheiten ergeben sich deshalb z. B. bei der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination in Form der Erfolgsqualifikationen. Der Versuch der Erfolgsqualifikation erfordert beim Täter hinsichtlich der schweren Folge ausnahmsweise Vorsatz, obwohl bei einer vollendeten Erfolgsqualifikation auch Fahrlässigkeit (§ 18 StGB) genügt.

II. Vorprüfung
Zu Beginn jeder Versuchsprüfung steht die Vorprüfung. Hier muss festgestellt werden, dass
die versuchte Tat durch den Täter nicht vollendet wurde und
der Versuch des einschlägigen Deliktes überhaupt strafbar ist.
1. Keine Vollendung
Zunächst muss also geprüft werden, ob die Tat nicht vollendet wurde. Grundsätzlich ist das immer dann der Fall, wenn die Prüfung eines Vorsatzdelikts am objektiven Tatbestand scheitert. Sollte der Täter die Tat vollendet haben, muss das vollendete Delikt geprüft werden, weil der Versuch als notwendiges Durchgangsstadium der Tat bei Vollendung immer vorliegt. Es wird also nur das vollendete Delikt geprüft.

Auf eine vorgeschaltete, getrennte Prüfung des vollendeten Vorsatzdelikts kann immer dann verzichtet werden, wenn der Erfolg bei Begehung eines vorsätzlichen Erfolgsdelikts offensichtlich gegeben ist. Die fehlende Vollendung kann in der Vorprüfung festgestellt werden.
Beispiel
T will O töten (§ 212 I StGB), indem er ihn mit einem Seil zu Tode stranguliert. T stranguliert den O bis zur Bewusstlosigkeit, hält O aber für Tod und lässt von ihm ab. Der O überlebt mit Verletzungen am Hals.
Eine vorgeschaltete, getrennte Prüfung sollte aber immer dann erfolgen, wenn sich Probleme im objektiven Tatbestand ergeben. Beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt sollte etwa im Falle der überholenden Kausalität das vollendete Erfolgsdelikt vorab getrennt geprüft werden.
Beispiel
T1 und T2 wollen unabhängig voneinander den O töten. T1 vergiftet den Kaffee des O mit einer tödlichen Menge Gift. Noch bevor das Gift seine Wirkung entfalten kann, lauert T2 dem O auf und tötet ihn mit einer Axt.
In diesem Beispiel ist der Erfolg nicht durch T1 eingetreten, weil T2 die ursprüngliche Ursachenkette des T1 komplett beseitigt und durch sein alleiniges Wirken eine neue Ursachenkette eröffnet, die im Tod des O resultiert. Dennoch sollte auch hinsichtlich des T1 zunächst das vorsätzliche Erfolgsdelikt (§ 212 I StGB) geprüft und dort das Problem der überholenden Kausalität behandelt werden. Eine Behandlung des Themas in der Vorprüfung wird aufgrund der Komplexität der Prüfung nicht empfohlen.
In einigen Fällen kann auch der Versuch eines reinen Tätigkeitsdelikts strafbar sein. Die fehlende Vollendung ist dann nicht am Ausbleiben eines Taterfolgs zu messen, sondern daran, ob die tatbestandliche Handlung verwirklicht wurde oder nicht.
Beispiel
T will das Haus des O in Brand setzen, geht aber davon aus, der O sei im Urlaub. Er wirft einen Molotowcocktail in das Schlafzimmer des O. Das Bett des O fängt Feuer, der Brand kann aber von der Feuerwehr gelöscht werden, bevor wesentliche Bestandteile des Hauses in Brand geraten.
In diesem Beispiel ist die Tathandlung “in Brand setzen” beziehungsweise “zerstören” nicht verwirklicht, weil das Feuer nicht auf wesentliche Bestandteile des Hauses übergegriffen ist beziehungsweise keine Unbrauchbarkeit von Teilen des Hauses hinsichtlich des bestimmungsgemäßen Gebrauchs vorliegt.
2. Strafbarkeit des Versuchs
Der Versuch ist in den §§ 22, 23 StGB geregelt, steht also systematisch im allgemeinen Teil und gilt damit grundsätzlich für jedes Delikt. Zu beachten ist hier die unterschiedliche Zusammensetzung des Normzitats in Abhängigkeit der Grundlage für die Versuchsstrafbarkeit.
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Das saubere Zitieren von Gesetzesangaben muss von jedem Jurastudenten einwandfrei beherrscht werden. Der Obersatz, den der Prüfer zuerst liest, gibt den ersten Eindruck. Insbesondere im Strafrecht muss sich die Strafbarkeit daher genau aus den zitierten Normen ergeben und in den Obersatz Einzug finden.
a) Strafbarkeit aufgrund spezifischer Anordnung
Während § 22 StGB den Versuch allgemein definiert und in jede Normkette eingebaut werden muss, muss § 23 I StGB nur angesprochen werden, wenn sich die Strafbarkeit des Versuchs nicht aus der Norm selbst ergibt.
Beispiel
Die Versuchsstrafbarkeit der Körperverletzung ergibt sich aus § 223 II StGB, sodass die einschlägige Normkette der versuchten Körperverletzung wie folgt lautet: §§ 223 I, II, 22 StGB.
b) Strafbarkeit aus dem allgemeinen Teil
Wird die Strafbarkeit des Versuchs in der Norm nicht ausdrücklich angeordnet, kann sich die Strafbarkeit aus § 23 I StGB in Verbindung mit § 12 I StGB ergeben. § 23 I StGB schreibt vor, dass der Versuch eines Verbrechens immer strafbar ist. Was ein Verbrechen ist, bestimmt wiederum § 12 I StGB, sodass auch § 12 I StGB Einzug in die Normkette finden muss.
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Was genau der Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen sowie Erfolgsdelikt und Begehungsdelikt ist, kannst du dir im Grundlagenartikel noch einmal genau durchlesen.
Beispiel
Die Versuchsstrafbarkeit des Totschlags ergibt sich nicht aus der konkreten Norm (§ 212 StGB) selbst, sondern nur im Zusammenhang mit den §§ 23 I, 12 I StGB, weil der Totschlag als Verbrechen einzustufen ist (Mindestmaß: nicht unter fünf Jahren Freiheitsstrafe). Die Normkette des versuchten Totschlags lautet also: §§ 212 I, 22, 23 I, 12 I StGB.
c) Sonderfall: Versuchsstrafbarkeit der Regelbeispiele
Zu beachten ist auch, dass der Versuch nur dann als eigenständige Straftat möglich ist, wenn es sich um einen Tatbestand handelt. Weil Regelbeispiele keinen eigenständigen Tatbestand aufweisen, ist der Versuch eines Regelbeispiels grundsätzlich nicht strafbar. Aufgrund der Ähnlichkeit zu einem Tatbestand ist es aber umstritten, ob der Versuch eines Regelbeispiels nicht ausnahmsweise doch strafbar ist. Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Regelbeispielen.
d) Strafbarkeit des untauglichen Versuchs
Fraglich ist ferner, ob ein Versuch bestraft werden kann, der objektiv gar nicht zum Erfolg führen konnte. Hierbei handelt es sich um einen sogenannten umgekehrten Tatbestandsirrtum, der zulasten des Täters wirken kann.
Definition
Ein untauglicher Versuch liegt vor, wenn die Ausführung des Tatentschlusses - also die Umsetzung der Tat nach der Vorstellung des Täters - entgegen seiner Vorstellung aus tatsächlichen Gründen nicht zur Verwirklichung des Unrechtstatbestandes führen kann.
Von einem untauglichen Versuch spricht man also immer dann, wenn der Taterfolg durch die Tat in ihrer konkret vorgestellten Form reell gar nicht eintreten kann. Dazu werden verschiedene Fallgruppen vertreten:
untaugliches Tatobjekt
Beispiel
T schießt auf den vermeintlich schlafenden O. O war aber bereits Stunden vorher an einem Schlaganfall gestorben.
untaugliches Tatmittel,
Beispiel
T will O vergiften. Der vom Apotheker A besorgte Medikamentencocktail kann aber entgegen der Vorstellung des T nicht zum Tod führen.
untaugliches Tatsubjekt
Beispiel
T lässt sich in Unkenntnis der Nichtigkeit seiner Beamtenernennung vom Bauherrn B Schmiergeld zahlen, um eine Baugenehmigung zu erhalten.
untauglicher Versuch aus grobem Unverstand
Beispiel
Hobbyterrorist T will das Passagierflugzeug, das ihm jede Nacht den Schlaf raubt, mit seinem Luftgewehr zum Absturz bringen.
untauglicher abergläubischer Versuch (nicht strafbar)
Beispiel
Hobbys-Satanist T will seinen verhassten Chef O tot sehen. Er beschwört eines Abends den Teufel und verkauft seine Seele für den Tod des C. C stirbt am nächsten Tag an einem Herzinfarkt.
Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ergibt sich aus einem “Erst-Recht-Schluss” aus § 23 III StGB. Wenn schon der untaugliche Versuch aus grobem Unverstand strafbar ist, muss es der ”normale” untaugliche Versuch erst recht sein.

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Für die Abgrenzung untauglicher Versuch und Wahndelikt, siehe den Artikel zu den Irrtümern.
III. Tatentschluss
Im Tatentschluss sind alle objektiven Tatbestandsmerkmale aus Tätersicht zu prüfen. Der Tatentschluss muss den Handlungswillen zur Verwirklichung aller objektiven Tatbestandsmerkmale umfassen, sowie auch deliktspezifische subjektive Merkmale. Der Tatentschluss muss zum Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens vorliegen.
Definition
Der Tatentschluss umfasst den auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale gerichteten Vorsatz und die sonstigen subjektiven Tatbestandsmerkmale.
Für das modulare Arbeiten bedeutet das, dass sauber im Tatentschluss gegliedert werden muss. Alle Module und Prüfungspunkte müssen aus Tätersicht dargestellt werden. Besonders wichtig wird dies, wenn etwa Unterlassungsdelikt und Versuch kombiniert werden. Hier muss das Modul Unterlassungsdelikt in den Tatentschluss Einzug finden.
Merke
Auch, wenn kein tatbestandlicher Erfolg eingetreten ist, muss die Kausalität geprüft werden. Der Täter muss auch Tatentschluss hinsichtlich der Kausalität und objektiven Zurechnung vorweisen. Er muss sich also vorstellen, den von ihm gewollten tatbestandlichen Erfolg auch kausal und objektiv zurechenbar herbeiführen zu wollen. Der Tatentschluss beinhaltet also in objektiver Hinsicht das Modul “Schema vorsätzliches Erfolgsdelikt”. Die Prüfung der Kausalität und objektiven Zurechnung entfällt aber bei der Prüfung eines versuchten Tätigkeitsdelikts (abstrakte Gefährdungsdelikte).

IV. Unmittelbares Ansetzen
Das unmittelbare Ansetzen wird als objektiver Tatbestand des Versuchs qualifiziert. Das liegt daran, dass der Wortlaut von § 22 StGB voraussetzt, dass der Täter “unmittelbar” zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt haben muss. An die Unmittelbarkeit wird dabei grundsätzlich ein objektiver Bewertungsmaßstab angelegt. Wie genau die Unmittelbarkeit jedoch zu beurteilen ist, wird unterschiedlich beurteilt.
Problem
Im Schrifttum werden zur Frage der Präzisierung der Unmittelbarkeit im Rahmen des unmittelbaren Ansetzens unterschiedliche Auffassungen vertreten:
Gefährdungstheorie: Die Unmittelbarkeit ist gegeben, wenn nach dem Täterplan eine Situation vorliegt, in der das betroffene Rechtsgut aus Tätersicht konkret gefährdet ist.
Sphärentheorie: Unmittelbarkeit liegt vor, wenn eine räumlich-zeitliche Nähe vorliegt, durch die der Täter in die Opfersphäre eindringt; eine konkrete Gefährdung braucht es nicht.
Zwischenakttheorie: Die Unmittelbarkeit ist gegeben, wenn nach dem Tatplan keine wesentlichen Zwischenakte mehr auf dem Weg zur Tatverwirklichung liegen
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Dieser Meinungsstreit muss in der Falllösung nicht mehr so differenziert dargelegt werden. Oftmals genügt die Verwendung der “Kombinationsformel”, die von der Rechtsprechung verwendet wird und alle Theorien miteinander vereinigt.
Definition
Nach der Kombinationsformel ist das Versuchsstadium erreicht, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum “Jetzt geht es los” überschreitet und objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, sodass sein Tun ohne wesentliche Zwischenakte - d.h. ohne weiteren Willensimpuls oder eine Mitwirkungshandlung eines anderen - in die Erfüllung des Tatbestandes übergeht.
V. Rücktritt
Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig von der Tat zurücktritt. Die Prüfung des Rücktritts gehört zu jeder Versuchsprüfung dazu. Der Rücktritt wird in diesem Artikel behandelt.