Dieser Artikel behandelt die strafrechtlichen Irrtümer. Strafrechtliche Irrtümer sind im Strafrecht AT von besonderer Relevanz, da sie nicht nur auf Tatbestands-, Rechtswidrigkeit- und Schuldebene auftreten, sondern auch unterschiedlichste Konsequenzen aufweisen. Dabei sind nicht alle Irrtümer im Gesetz geregelt, weshalb klassische Meinungsstreitigkeiten und Schemata auswendig erlernt werden müssen.
I. Allgemeines
Wie bereits erwähnt, lassen sich die strafrechtlichen Irrtümer in unterschiedliche Kategorien einordnen. Die Einbindung der Prüfung erfolgt dabei innerhalb des gängigen Prüfungsaufbau (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld). Dabei sind die Prüfungsmodule des jeweiligen Irrtums vollständig auf diesen Ebenen einzubringen.
Vernetztes Lernen
Was wir mit “modularem” Arbeiten meinen, kannst du dir hier durchlesen.
Ein Irrtum kann zunächst ganz allgemein definiert werden.
Definition
Irrtum meint das Auseinanderfallen von der Vorstellung des Täters (subjektiv) und der Wirklichkeit (objektiv).
Das strafrechtlich relevante Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit begründet sich entweder
durch die Unkenntnis des Täters (in normativer oder tatsächlicher Hinsicht) in Form der negativen Irrtümer
oder
durch die irrige Annahme von Umständen oder rechtlichen Grenzen in Form der positiven Irrtümer.
Merke
Negativer Irrtum
Tatbestandsirrtum: Jäger J weiß nicht, dass es sich beim Reh im Gebüsch um einen Menschen handelt und schießt.
Unkenntnis über den Umstand, dass es sich um einen Menschen handelt.
Positiver Irrtum
Erlaubnistatbestandsirrtum: A und B sind verfeindet und schon mehrfach aneinandergeraten. Als sie sich abends in einem Club begegnen, läuft B schnellen Schrittes auf den A zu. A geht von einer erneuten Eskalation aus. Als B die Arme ausstreckt, wertet der A dies als Angriff und schlägt B ins Gesicht. Dieser wollte den A jedoch nur umarmen und das Kriegsbeil begraben.
Irrige Annahme über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes durch vermeintlichen Angriff des B.
1. Kategorisierung
Strafrechtliche Irrtümer lassen sich noch in anderer Art und Weise kategorisieren:
Irrtümer zugunsten und zuungunsten des Täters,
Irrtümer zuungunsten des Täters werden auch “umgekehrte” Irrtümer genannt
Irrtümer auf Tatbestandsebene, Rechtswidrigkeitsebene sowie Schuldebene,
Irrtümer in tatsächlicher Hinsicht und normativer Hinsicht.
Dabei ist zu beachten, dass sich die unterschiedlichen Irrtümer zumeist in mehrere Kategorien einordnen lassen, sodass die Kategorisierungen nicht streng voneinander getrennt werden können, sondern ineinandergreifen.
Beispiel
So ist ein Tatbestandsirrtum nach § 16 I StGB ein Irrtum zugunsten des Täters auf Tatbestandsebene in tatsächlicher Hinsicht.
Dogmatisch orientiert sich der Artikel im Folgenden am klassischen 3-stufigen Prüfungsaufbau (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld), den du dir im Grundlagenartikel noch einmal anschauen kannst. Die Irrtümer werden auf der Ebene dargestellt, auf die sich der Irrtum bezieht, nicht auf der Ebene der Rechtsfolge.
Klausurtipp
Wichtig zu verstehen ist, dass die Frage, welche Deliktsebene der Irrtum betrifft, strikt davon zu trennen ist, auf welcher Ebene des Prüfungsaufbaus der Irrtum geprüft werden muss! Der Prüfungsstandort richtet sich nämlich in der Regel nach der Rechtsfolge des Irrtums!
Beispiel:
Obwohl der Erlaubnisirrtum, also der Irrtum des Täters darüber, dass er noch innerhalb der Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes handelt, die Ebene der Rechtswidrigkeit betrifft, muss er im Rahmen der Schuld angesprochen und geprüft werden, weil ihm bei Unvermeidbarkeit des Irrtums das Unrechtsbewusstsein fehlt und damit schuldlos handelt!


Wichtig zu beachten ist, dass Irrtümer IMMER subjektiv vorliegen, also in der Vorstellung des Täters begründet sind und daher regelmäßig im Rahmen der subjektiven Merkmale auf den unterschiedlichen Ebenen der Prüfung behandelt werden müssen. Besonderheiten sind aber nicht ausgeschlossen, so ist etwa der Erlaubnisirrtum im Rahmen der Schuld oder der Erlaubnistatbestandsirrtum auf einer eingeschobenen Prüfungsebene zu behandeln!
II. Tatbestandsebene
Im Rahmen der Irrtümer, die die Tatbestandsebene betreffen, können zunächst Irrtümer zugunsten und zuungunsten des Täters unterschieden werden. Beide Kategorien von Irrtümern werden im subjektiven Tatbestand geprüft. Wenn es sich um ein versuchtes Delikt handelt, werden die Irrtümer somit auf Ebene des "Tatentschlusses" geprüft.

1. Zugunsten des Täters
Irrtümer zugunsten des Täters privilegieren den Täter hinsichtlich der strafrechtlichen Sanktion. Sie können in tatsächlicher Hinsicht (Irrtum über tatsächliche Umstände) und Irrtümer in normativer (rechtlicher) Hinsicht vorliegen.
a) Irrtümer in tatsächlicher Hinsicht
In tatsächlicher Hinsicht gibt es den Tatbestandsirrtum sowie den Irrtum über die Annahme privilegierender Umstände.
aa) Der Tatbestandsirrtum
Der Tatbestandsirrtum nach § 16 I StGB beschreibt den Irrtum des Täters über das, was in der konkreten Situation wirklich vor sich geht.
Definition
Der Täter kennt bei Begehung der Tat einen Umstand nicht, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört.
Im Rahmen des klassischen Tatbestandsirrtums sind vier Fallgruppen zu erläutern. Regelmäßig werden Tatbestandsirrtümer in Form eines
error in persona vel objecto
aberratio ictus oder
Irrtums über den Kausalverlauf
vorliegen, welche aufgrund unterschiedlicher Rechtsfolgen einzeln zu betrachten sind.
aaa) Gleichwertiger error in persona vel objecto
Error in persona vel objecto heißt wörtlich übersetzt Irrtum über die Person oder das Objekt. Gemeint sind Fehlvorstellungen des Täters hinsichtlich des Tatobjekts, welches in der Regel eine Person oder eine Sache darstellt.
Insofern es sich beim vorgestellten Tatobjekt und dem wirklichen Tatobjekt um gleichwertige Tatobjekte handelt, hat der error in persona vel objecto keine privilegierenden Auswirkungen auf die Strafbarkeit des Täters; der error in persona vel objecto ist mithin unbeachtlich.
Beispiel
T will seinen verhassten Arbeitskollegen O töten. Er weiß, dass O stets in der Dämmerung um 20 Uhr einen Spaziergang im nahe gelegenen Wald macht. Pünktlich versteckt sich T hinter einem am Waldweg gelegenen Busch und wartet auf den O. Ausnahmsweise ist O an diesem Tag verspätet, stattdessen kommt Wanderer W, der dem O in der Dämmerung ähnlich sieht, pünktlich um 20 Uhr am Busch vorbei. T schießt auf W in der Annahme, er sei O. Strafbarkeit gem. §§ 212 I, 211 II Gr. 2, Var. 1 StGB?
Im obigen Beispiel irrt sich T zwar hinsichtlich der Identität der Person. Allerdings hat T sein anvisiertes Tatobjekt (W) getroffen und es handelt sich bei O und W um gleichwertige Tatobjekte (Menschen). §§ 212 I, 211 II StGB setzen jedoch lediglich voraus, dass der Täter einen Menschen tötet, sodass die Identität der Person für den Vorsatz (dieser muss sich nur auf die gesetzlich vorgegebenen Tatbestandsmerkmale beziehen) unerheblich ist.
T ist strafbar aus §§ 212 I, 211 II Gr. 2, Var. 1 StGB.
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Besondere Relevanz hat der error in persona vel objecto auch im Rahmen der Mittäterschaft, der mittelbaren Täterschaft und der Anstiftung, da hier die Auswirkungen auf den Tatbeteiligten genau untersucht werden müssen.
bbb) Ungleichwertiger error in persona vel objecto
Der ungleichwertige error in persona vel objecto liegt vor, wenn es sich beim vorgestellten Tatobjekt und dem wirklichen Tatobjekt um ungleichwertige Tatobjekte handelt. In diesen Fällen ist der error in persona beachtlich. Die Rechtsfolge wird in § 16 I StGB vorgeschrieben: Der Vorsatz des Täters entfällt, eine Strafbarkeit aus Vorsatzdelikt scheidet aus.
Beispiel
Jäger J geht im Wald jagen. Als er ein Rascheln hört, geht er fest davon aus, es handele sich um ein Reh, visiert an und schießt. Es stellt sich heraus, dass der J nicht auf ein Reh, sondern die Oma O geschossen hat, die gerade Pilze sammelt. O erliegt ihrer Schussverletzung. Strafbarkeit des J aus § 212 I StGB?
In diesem Beispiel geht der J davon aus, es handele sich um ein Reh, das er töten will. Tatsächlich ist es die O, die gerade Pilze sammelt. T irrt folglich über das Tatobjekt. Da ein Reh ein Tier ist, das gemäß § 90a BGB rechtlich als Sache zu behandeln ist, sind die Tatobjekte ungleichwertig (Mensch - Tier). Der T unterliegt einem Tatbestandsirrtum, da er nicht weiß, dass das Reh in Wahrheit O ist und damit den gesetzlichen Tatbestand des Totschlags erfüllt. Der Vorsatz des T entfällt; er ist nicht aus § 212 I StGB strafbar.
Merke
Durch einen Tatbestandsirrtum entfällt nur der Vorsatz, sodass zwar nicht aus Vorsatztat bestraft werden kann. Eine Strafbarkeit aus Fahrlässigkeitsdelikt kommt aber weiterhin in Betracht, wenn dem Täter ein Sorgfaltsverstoß vorgeworfen werden kann. Zu beachten ist jedoch, dass Fahrlässigkeit nur in gesetzlich festgelegten Fällen strafbar ist (§ 15 StGB), sodass es ein entsprechendes Fahrlässigkeitsdelikt überhaupt geben muss. Mehr dazu findest du hier.
ccc) aberratio ictus
Von den Fällen des error in persona vel objecto ist der aberratio ictus, was wörtlich übersetzt Fehlgehen des Schlages bedeutet, abzugrenzen. Der aberratio ictus ist kein klassischer Irrtum, spielt aber in der Abgrenzung zum error in persona eine wichtige Rolle. Der aberratio ictus liegt vor, wenn der Verletzungserfolg an einem anderen Tatobjekt eintritt, als der Täter im maßgebenden Zeitpunkt anvisierte. Die rechtliche Behandlung hängt auch hier davon ab, ob getroffenes und anvisiertes Tatobjekt gleichwertig sind (Mensch getroffen und anvisiert) oder nicht (Sache anvisiert, Mensch getroffen).
Merke
Die Abgrenzung zwischen error in persona und aberratio ictus hängt also davon ab, ob der Täter eine erfolgreiche Individualisierung vorgenommen hat, er also das anvisierte Tatobjekt getroffen hat (error in persona) oder er aufgrund einer unvorhergesehenen Abweichung das anvisierte Tatobjekt verfehlt hat.
Der ungleichwertige aberratio ictus ist weitestgehend unumstritten. Es liegt ein Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 I StGB vor, sodass die gleiche Rechtsfolge eintritt, wie beim ungleichwertigen error in persona (Ausschluss der Strafbarkeit aus Vorsatztat, aber gegebenenfalls Fahrlässigkeitsstrafbarkeit).
Beispiel
A ist das Bellen des Hundes (Bello) seines Nachbarn (N) leid. Er nimmt seine Pistole und visiert den Bello an. In dem Moment des Abdrückens springt N todesmutig dazwischen, um den geliebten Bello zu retten. N stirbt.
Die Behandlung des gleichwertigen aberratio ictus hingegen ist umstritten.
Beispiel
A will seinen verhassten Nachbarn N töten. Er nimmt seine Pistole und N ins Visier. Im Moment des Abdrückens springt der zufällig vorbeikommende Polizist P dazwischen. P stirbt.
Problem
Behandlung des gleichwertigen aberratio ictus
Formelle Gleichwertigkeitstheorie Aufgrund der Gleichwertigkeit der getroffenen Tatobjekte liege eine vollendete vorsätzliche Tat vor. Die Vorsatzkonkretisierung sei zumindest in Fällen eines gleichwertigen Tatobjekts schlicht unbeachtlich.
Adäquanztheorie Die Fälle des aberratio ictus seien vergleichbar mit denen des Irrtums über den Kausalverlauf. Weil dieser unbeachtlich ist, wenn der Kausalverlauf nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung liegt, müsse das auch übertragen werden auf Fälle des aberratio ictus.
Konkretisierungstheorie (h.M.) Die Frage der Vorsatzkonkretisierung sei entscheidend. Hat sich der Vorsatz bei Vornahme der Tathandlung bereits auf ein Tatobjekt konkretisiert, wird aber unvorhergesehen auf die gleiche Art und Weise ein anderes Tatobjekt getroffen, scheide der Vorsatz des Täters aus.
Stellungnahme Die herrschende Meinung überzeugt. Die Gleichwertigkeitstheorie verkennt die Vorsatzkonkretisierung. Stellt sich der Täter bei Vornahme der Tathandlung den Erfolgseintritt am anvisierten Tatobjekt vor, ist eine hinreichende Objektindividualisierung eingetreten, sodass dem Täter ein ungewolltes Tatobjekt als gewolltes untergeschoben wird, der Vorsatz des Täters insoweit also fingiert wird. Gegen die Adäquanztheorie spricht, dass Fälle des aberratio ictus und des Irrtums über den Kausalverlauf nicht vergleichbar sind, da letzterer gerade die Art und Weise der Taterfolgsrealisierung und nicht das Tatobjekt betrifft.
Für das obige Beispiel bedeutet das:
Nach der Gleichwertigkeitstheorie wäre der A wegen vollendetem Totschlags am Polizisten strafbar, §§ 212 I StGB.
Gleiches gilt für die Adäquanztheorie, da das Dazwischenspringen des P nicht außerhalb jeglicher Lebenserfahrung liegt.
Nach der Konkretisierungstheorie scheidet eine Strafbarkeit wegen Vollendung aus, da bereits eine Vorsatzkonkretisierung zum Zeitpunkt der Vornahme der Tathandlung eingetreten ist, sodass nur wegen Versuch bzgl. der Tötung des A und wegen fahrlässiger Tötung bzgl. des P bestraft werden kann.
Im Rahmen des gleichwertigen aberratio ictus ist zudem noch die Frage relevant, wie die Fälle zu behandeln sind, in denen eine fehlende sinnliche Wahrnehmung durch den Täter vorliegt.
Beispiel
T hasst Politiker P. Er will “ein Zeichen setzen” und installiert eine Zündbombe am Wagen des P. Er weiß durch Auskundschaften, dass P jeden Morgen um 8 Uhr mit dem Auto ins Rathaus fährt. Anders als sonst steigt an diesem Morgen nicht der P, sondern seine Frau F ins Auto, um Einkäufe zu erledigen. F stirbt durch die Bombe. T erfährt hiervon in den Nachrichten.
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Hier handelt es sich nicht um einen Fall der mittelbaren Täterschaft! Zum einen kann F sich nicht selbst töten, zum anderen liegt eine neutrale Handlung der F vor, die im Rahmen der unmittelbaren Täterschaft bei der objektiven Zurechnung angesprochen werden muss. Mehr zu diesem Thema und Autobomben findest du hier.
Im obigen Beispiel gibt der Täter die unmittelbare Kausalität quasi ab, weil er keinen unmittelbaren Einfluss mehr auf das Detonieren hat (er hat dennoch Tatherrschaft). Ihm fehlt in der Folge auch jegliche sinnliche Wahrnehmung über das eigentliche Geschehen der Tat. Fraglich ist, wie dieser Fall zu beurteilen ist.
Problem
Abgrenzung error in persona und aberratio ictus bei anderem getroffenem Tatobjekt und fehlender sinnlicher Wahrnehmung
Eine Ansicht geht davon aus, dass ein aberratio ictus auch dann vorliegt, wenn der Täter das konkrete Tatgeschehen aus der Hand gibt. Entscheidend sei der Vorsatz des Täters, der sich durch den Tatplan schon hinreichend konkretisiert habe.
Die herrschende Meinung geht hingegen davon aus, dass ein unbeachtlicher gleichwertiger error in persona vorliegt. Der Vorsatz habe sich zwar hinreichend konkretisiert, aber nur hinsichtlich der Person, die letztlich in den Wagen steigt. Gibt der Täter das Tatgeschehen derart aus der Hand, dass keinerlei sinnliche Wahrnehmung mehr gegeben sei, könne das Fehlgehen der Tat im Augenblick der Realisierung der Tathandlung schon gar nicht mehr beurteilt werden.
Stellungnahme Die herrschende Meinung überzeugt. Kriminalpolitisch sollte es nicht belohnt werden, dass der Täter hochgefährliche Dinge aus der Hand gibt und sich derart entfernt, dass er das konkrete Tatgeschehen gar nicht mehr sinnlich wahrnehmen kann. Tut er dies doch, kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass sich sein Vorsatz gemäß dem ursprünglichen Tatplan ausschließlich auf das ursprünglich individualisierte Tatobjekt bezieht.
Für obigen Fall bedeutet das:
Nach der ersten Ansicht käme nur eine Versuchsstrafbarkeit hinsichtlich des P und eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit hinsichtlich der F in Betracht.
Nach der herrschenden Meinung liegt ein unbeachtlicher error in persona vor, sodass aus vollendeter Vorsatztat an F bestraft wird.
Klausurtipp
Klausurtaktisch sollte in diesen Fällen im Rahmen des Vorsatzes zunächst auf die Frage eingegangen werden, ob ein nach der Konkretisierungstheorie vorsatzausschließender aberratio ictus vorliegt. Hier sollte sich aus kriminalpolitischen Erwägungen für die herrschende Meinung entschieden und sodann ein error in persona dargestellt werden.
ddd) Irrtum über den Kausalverlauf
Die Kausalität ist ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal (objektiv bei Vollendung, subjektiv bei Versuch) einer jeden Straftat, egal ob es sich um ein Fahrlässigkeitsdelikt oder ein Vorsatzdelikt handelt. Der Vorsatz (oder Tatentschluss) des Täters muss sich stets auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale beziehen, sodass der Täter auch über das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Kausalität irren kann.
Von einem Irrtum über den Kausalverlauf spricht man, wenn sich der Täter die Art und Weise der Erfolgsherbeiführung anders vorstellt. Hier können schon kleine Abänderungen im Sachverhalt den Unterschied zwischen aberratio ictus und Irrtum über den Kausalverlauf machen, weshalb es wichtig ist, den Unterschied zu kennen.
Merke
Während der Täter beim aberratio ictus sein anvisiertes Tatobjekt verfehlt, und ein anderes gleichwertiges oder ungleichwertiges Tatobjekt trifft (Fehlgehen der Tat), trifft der Täter, der einem Irrtum über den Kausalverlauf unterliegt, zwar sein anvisiertes Ziel, allerdings auf eine unerwartete Art und Weise.
Es liegt in der Natur der Sache, dass niemals alle Einzelheiten des Geschehensablaufs durch den Täter vorhergesehen werden können, sodass nur dann ein vorsatzausschließender Irrtum über den Kausalverlauf angenommen werden kann, wenn es sich um einen wesentliche Abweichung des Kausalverlaufs handelt, die eine andere Bewertung der Tat rechtfertigen.
Definition
Eine wesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf - und damit ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum - liegt nur dann vor, wenn die Abweichung nicht mehr in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren liegt.
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Ersichtlich ähnelt oben genannte Definition der des atypischen Kausalverlaufs. Wichtig ist es an dieser Stelle auf das Verhältnis zur Objektiven Zurechnung hinzuweisen, die scheitert, wenn ein atypischer Kausalverlauf vorliegt. Liegt eine wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf vor, wird die Prüfung bereits an dem Vorliegen eines atypischen Kausalverlaufs scheitern, sodass man gar nicht mehr zur Prüfung des Vorsatzes und einem eventuellen Irrtum kommt. Liegt kein atypischer Kausalverlauf vor, wird regelmäßig auch keine wesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf in Form eines beachtlichen Irrtums über den Kausalverlauf vorliegen.
Paradebeispiel für eine Fallkonstellation, in der man bis zur Frage des Vorliegens eines Irrtums über den Kausalverlauf kommt und in diesem Rahmen die Frage der Wesentlichkeit problematisieren muss, sind die sogenannten Jauchegrubenfälle. Hier wird die Frage der Kausalität beziehungsweise der abweichende Kausalverlauf im Rahmen der Kausalität, der objektiven Zurechnung, dem Vorsatz sowie den strafrechtlichen Irrtümern relevant. Dazu folgender Fall:
Beispiel
T will O töten. Er schlägt O nieder und erdrosselt ihn. T geht davon aus, dass O tot ist und will sich nunmehr um die Leiche kümmern. Er versenkt den Körper in der Jauchegrube auf seinem Hof. Später stellt sich heraus, dass O nicht durch das Würgen gestorben, sondern in der Jauchegrube ertrunken ist. Strafbarkeit des T wegen § 212 I StGB.
Begonnen werden sollte mit der Prüfung der Zweithandlung:
I. Strafbarkeit des T gemäß § 212 I StGB durch das Versenken des O in der Jauchegrube
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tathandlung (+)
bb) Taterfolg (+)
cc) Kausalität (+)
dd) objektive Zurechnung (+)
Die Prüfung des objektiven Tatbestands bereitet bei den Zweithandlungen in der Regel keine Probleme.
b) Subjektiver Tatbestand
Vorsatz des T bei Vornahme der Tathandlung?
(P) Streit um die Behandlung des dolus generalis im Rahmen der Beseitigungsfälle. Im Ergebnis ist der Lehre vom Irrtum über den Kausalverlauf zu folgen (h.M.)→ dolus generalis (-)
Vorsatz des T (-): Er ging davon aus, dass O bereits tot war
2. Ergebnis:
Strafbarkeit aus § 212 I StGB wegen des Versenken des O in der Jauchegrube (-)
Sodann muss gemäß der herrschenden Meinung eine Strafbarkeit wegen der Ersthandlung geprüft werden:
II. Strafbarkeit des T gemäß § 212 I StGB wegen des Würgens des O
1. Tatbestand
a) objektiver Tatbestand
aa) Tathandlung (+)
bb) Taterfolg (+)
cc) Kausalität (+) Im Rahmen der Kausalität muss erstmals das Problem des unbewussten Herbeiführens des Taterfolgs durch die Zweithandlung angesprochen werden. Im Prüfungspunkt Kein Regressverbot muss festgestellt werden, dass es grundsätzlich kein Regressverbot gibt und deshalb auch die Ersthandlung des Täters für den Erfolgseintritt kausal bleibt und für die Strafbarkeit herangezogen werden kann.
dd) Objektive Zurechnung (+)
Im Rahmen der objektiven Zurechnung muss nun untersucht werden, ob der Risikozusammenhang wegen eines atypischen Kausalverlaufs ausgeschlossen ist: Hier wird der Taterfolg zwar nicht durch die Erdrosselungshandlung des T herbeigeführt, sondern durch das anschließende Versenken der vermeintlichen Leiche in der Jauchegrube. Es liegt aber nicht außerhalb jeglicher Lebenserfahrung, dass eine vermeintliche Leiche ohne ärztliche Untersuchung gar keine ist. Darüber hinaus ermöglichte das Würgen bis zur Bewusstlosigkeit das Ertrinken erst, sodass sich das rechtlich missbilligte Risiko auch zurechenbar im Erfolgseintritt realisierte. Dieser Kausalverlauf ist in Summe also nicht in einem die objektive Zurechnung unterbrechenden Maße außergewöhnlich und verdient keine andere Bewertung der Tat. Die Tat stellt sich weiterhin wertend betrachtet als Werk des Täters dar.
b) subjektiver Tatbestand
aa) Vorsatz des T (+), wenn kein Irrtum über den Kausalverlauf
bb) Vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum (§ 16 I StGB) in Form des Irrtums über den Kausalverlauf?
Abgrenzung zum aberratio ictus Hier muss eine kurze Abgrenzung zum aberratio ictus erfolgen, der gerade nicht vorliegt, weil der T sein anvisiertes Zielobjekt auch getroffen hat, er irrt nur über die Art und Weise der Erfolgsrealisierung (Ertrinken statt Erdrosseln)
Beachtlichkeit des Irrtums über den Kausalverlauf Hier muss der Irrtum über den Kausalverlauf definiert und darunter subsumiert werden. Besonders das Merkmal der Wesentlichkeit muss hier unter Rückgriff auf die Frage untersucht werden, ob der tatsächlich eingetretene Kausalverlauf noch in dem nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren liegt, was unter Verweis auf die Argumentation im Rahmen der Atypie des Kausalverlaufs (objektive Zurechnung) bejaht werden kann: Denn es liegt nicht außerhalb jeglicher Lebenserfahrung, dass eine vermeintliche Leiche ohne ärztliche Untersuchung gar keine ist.
cc) Zwischenergebnis: Vorsatz des T (+)
2. Rechtswidrigkeit (+)
3. Schuld (+)
Ergebnis: Strafbarkeit des T gemäß § 212 I StGB wegen des Würgens des O (+)
Sodann kann noch kurz auf die Strafbarkeit des T wegen fahrlässiger Tötung durch das Werfen des O in die Jauchegrube eingegangen werden:
III. Strafbarkeit des T gemäß § 222 StGB durch das Werfen des T in die Jauchegrube
1. Tatbestand
a) Tathandlung (+)
b) Taterfolg (+)
c) Kausalität (+)
d) Objektive Fahrlässigkeit (+)
aa) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (+)
Eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung kann darin gesehen werden, dass sich der T nicht vergewisserte, ob O tatsächlich tot war.
bb) Objektive Vorhersehbarkeit (+) Eine vernünftige Person aus dem gleichen Umfeld des Täters unter den gegebenen Umständen und basierend auf allgemeiner Lebenserfahrung hätte erwartet, dass die Möglichkeit der Bewusstlosigkeit des T besteht und in der Jauchegrube ertrinkt.
c) Objektive Zurechnung (+)
2. Rechtswidrigkeit (+)
3. Schuld (+)
a) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung (+)
b) Subjektive Vorhersehbarkeit (+)
4. Ergebnis:
A ist hinsichtlich der Zweithandlung wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB strafbar, welche aber als mitbestrafte Nachtat zurücktritt.


bb) Irrtum über privilegierende Umstände
Der Irrtum über privilegierende Umstände ist ausdrücklich in § 16 II StGB geregelt. Der Täter stellt sich Umstände vor, durch die er einen milderen statt des tatsächlich verwirklichten Straftatbestands erfüllt. Hier kann der Täter nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.
Beispiel
Arzt A ist mit Patient P befreundet, der nach einem Autounfall nur noch mithilfe lebenserhaltender Maschinen lebensfähig und nur sehr unregelmäßig und eingeschränkt ansprechbar ist. Nach einer Unterhaltung mit der Frau des P (F), die dem A fälschlicherweise sagte, der P wäre kurz ansprechbar gewesen und hätte ihr mitgeteilt, dass P durch die Hand seines Freundes A sterben wolle und F den A dahingehend überzeugend solle, geht A fest vom ausdrücklichen ernsten Verlangen nach der Tötung durch ihn aus. A spritzt dem P ein letales Medikament. P stirbt. Strafbarkeit des P?
Im oben aufgeführten Beispiel liegt der objektive Tatbestand des § 212 I StGB vor. Auch der Tatbestandsvorsatz des Täters liegt vor (Tötung eines Menschen). Allerdings muss im subjektiven Tatbestand (Vorsatz des A) geprüft und festgestellt werden, dass er sich Umstände vorstellt, die eine Strafbarkeit aus dem privilegierenden Gesetz (§ 216 I StGB) ermöglicht, mithin ein Irrtum über privilegierende Umstände im Sinne des § 16 II StGB vorliegt. Die Prüfung scheitert folglich am subjektiven Tatbestand des § 212 I StGB. Sodann muss eine Prüfung des § 216 I StGB erfolgen, dessen objektiver Tatbestand am Nichtvorliegen eines ernstlichen Verlangens scheitert. Danach muss noch einmal § 216 I StGB i.V.m. § 16 II StGB geprüft werden. Im Rahmen der Prüfung des ernstlichen Tötungsverlangen muss dann festgestellt werden, dass das Nichtvorliegen des ernstlichen Tötungsverlangens durch die irrige Annahme gemäß § 16 II StGB kompensiert wird.
Merke
Übersicht zur Prüfung des § 16 II StGB:
I. Strafbarkeit des Täters (A) gemäß objektiv verwirklichten härteren Gesetz (§ 212 I StGB) durch Tötungshandlung (Spritzen des letalen Medikaments)
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tathandlung (+)
bb) Taterfolg (+)
cc) Kausalität und objektive Zurechnung (+)
b) Subjektiver Tatbestand
aa) Tatbestandsvorsatz (+)
bb) Aber Irrtum über privilegierende Umstände gemäß § 16 II StGB (+) → Bestrafung nur aus milderem Gesetz
2. Ergebnis:
Strafbarkeit aus milderem Gesetz (§ 216 StGB)
II. Strafbarkeit des Täter (A) gemäß milderem Gesetz (§ 216 I StGB) durch Tötungshandlung (Spritzen des letalen Medikaments)
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tatobjekt: anderer Mensch (+)
bb) Tathandlung: Töten (+)
cc) ausdrückliches und ernsthaftes Verlangen (-) Hier muss festgestellt werden, dass gerade kein ernsthaftes und ausdrückliche Tötungsverlangen des Getöteten vorliegt. Die Prüfung scheitert.
2. Ergebnis:
Strafbarkeit des A aus § 216 I StGB (-)
III. Strafbarkeit des Täters (A) gemäß vorgestelltem milderen Gesetz (§ 216 I StGB) in Verbindung mit Irrtum über privilegierende Umstände gemäß § 16 II StGB
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tatobjekt: anderer Mensch (+)
bb) Tathandlung: Töten (+)
cc) ausdrückliches und ernstliches Verlangen (+) i.V.m. § 16 II StGB Hier muss dann festgestellt werden, dass das Nichtvorliegen des ernstlichen Tötungsverlangens durch dessen irrige Annahme gemäß § 16 II StGB kompensiert wird.
dd) Zur Tötung bestimmt (+) Hier muss festgestellt werden, dass der Täter gerade wegen der irrigen Annahme des Tötungsverlangens und nicht bereits vorher zur Tötung entschlossen war.
b) Subjektiver Tatbestand (+)
2. Rechtswidrigkeit (+)
3. Schuld (+)
4. Ergebnis:
Strafbarkeit des Täters (A) gemäß § 216 I i.V.m. § 16 II StGB.
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Im obigen Beispiel liegt im Übrigen eine mittelbare Täterschaft der F vor, weil A wegen des Irrtums im Rahmen des Vorsatzes als vorsatzlos-doloses Werkzeug gilt, mithin einen Strafbarkeitsmangel aufweist, während F durch ihr überlegenes Wissen, also durch ihre Wissensherrschaft die Tat (§ 212 I StGB) beherrscht. Näheres dazu kannst du dir hier durchlesen.
Beruht die irrtümliche Annahme der privilegierenden Umstände auf einer Sorgfaltspflichtverletzung, kommt darüber hinaus eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit diesbezüglich in Betracht (im vorliegenden Fall wohl wegen § 222 StGB, da A hier auch ärztliche Pflichten verletzt).
b) Irrtum in normativer Hinsicht: Verbotsirrtum
In normativer Hinsicht kommt auf Tatbestandsebene zugunsten des Täters vor allem der Verbotsirrtum zum Tragen, der in § 17 StGB geregelt ist. Ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter in Unkenntnis des Verbotenseins seines Tuns handelt. Ihm fehlt folglich bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun (Unrechtsbewusstsein). In Abgrenzung zum Tatbestandsirrtum weiß der Täter also in tatsächlicher Hinsicht, was er macht, irrt aber über die rechtliche Bewertung durch die Strafnorm.
Merke
Obwohl sich dieser Irrtum auf der Tatbestandsebene abspielt, muss die Prüfung des Verbotsirrtums im Rahmen der Schuld erfolgen, da das durch den Verbotsirrtum betroffene Unrechtsbewusstsein Teil der Schuld ist. Der Täter hat also trotz des Irrtums mit Tatbestandsvorsatz (subjektiver Tatbestand ist erfüllt), handelt aber mangels Unrechtsbewusstsein ohne Schuld (insofern der Verbotsirrtum vermeidbar war).
Die Rechtsfolge des Verbotsirrtums hängt gemäß § 17 S. 2 StGB davon ab, ob der Verbotsirrtum vermeidbar war oder nicht:
War der Verbotsirrtum unvermeidbar (sehr selten), greift § 17 S. 1 StGB; der Täter handelt ohne Schuld und ist straflos.
War der Verbotsirrtum vermeidbar (in der Regel), greift § 17 S. 2 StGB; der Täter handelt schuldhaft und ist strafbar. Allerdings kann (muss aber nicht) die Strafmilderungsvorschrift des § 49 I StGB zum Tragen kommen.
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Anders als etwa im Rahmen der Beihilfe ist die Strafmilderung hier nicht obligatorisch:
§ 27 II StGB: “Sie ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.”
§ 17 S. 2 StGB “(…) so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden.”
Definition
Der Verbotsirrtum ist vermeidbar, wenn der Täter bei gehöriger Gewissensanspannung und unter Berücksichtigung seiner individuellen Fähigkeiten, Kenntnisse und seines sozialen Umfelds das Unrecht seiner Handlung hätte erkennen können.
Ein Verbotsirrtum kann verschiedene Gründe haben:
aa) Verbotsirrtum wegen Unkenntnis über den einschlägigen Straftatbestand
Ein schlichter Verbotsirrtum liegt zunächst vor, wenn der Täter die einschlägige Strafnorm nicht kennt.
Beispiel
Hobbyjäger H ist im Wald unterwegs. Er hatte kürzlich ein Waldgrundstück erworben und bejagt “seine” Rehe. Er ist Sportschütze und besitzt einen Waffenschein, weiß aber nicht, dass eine Jagd ohne Jagdschein als Wilderei gemäß § 292 StGB gilt, da er noch nie etwas von § 292 StGB und dem dort vorgeschriebenen Jagdausübungsrecht gehört hat. Strafbarkeit nach § 292 StGB?
Im obigen Beispiel unterliegt der H einem Verbotsirrtum. Diesen Irrtum hätte er aber entsprechender Anspannung seines Gewissens erkennen können. Da H bereits wusste, dass er einen Waffenschein benötigt, um legal eine Waffe zu besitzen, ist es höchstwahrscheinlich, dass er durch einfaches Nachforschen oder Befragung seines Umfelds (Sportschützenkollegen), das Unrecht der Tat hätte erkennen können.
bb) Subsumtionsirrtum
Ein Subsumtionsirrtum gilt als Verbotsirrtum, wenn der Täter den Straftatbestand zu eigenen Gunsten verengt.
Beispiel
T ist Buchhalter und Stammgast in der Kneipe des W. Er darf seine Biere auf den “Bierdeckel” schreiben und später bezahlen. Als T eines Tages in finanzielle Bedrängnis kommt und die Rechnung nicht begleichen kann, radiert er in einem günstigen Augenblick die Striche des W auf “seinem” Bierdeckel weg, um weniger Biere bezahlen zu müssen. Dabei glaubt er, dass es sich bei dem Bierdeckel nicht um eine Urkunde handelt.
Im vorliegenden Fall ist der Bierdeckel sehr wohl als Urkunde im Sinne des § 267 I StGB zu werten, sodass T hier zu eigenen Gunsten den Straftatbestand verengt und somit hinsichtlich des Unrechts seiner Tat irrt. Er hätte aber bei nur leichter Anspannung seines Gewissens das Unrecht seiner Tat erkennen können. Das gilt vor allem unter Berücksichtigung seiner persönlichen Fähigkeiten, denn als Buchhalter ist man komplexe Geschehensabläufe gewohnt. Es handelt sich um einen vermeidbaren Verbotsirrtum im Sinne des § 17 S. 2, S. 1 StGB. T ist strafbar nach § 267 I Var. 2 StGB.
cc) Sonstige Irrtümer
Als Verbotsirrtümer sind auch der Erlaubnisirrtum sowie der Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes zu werten. Hier sind aber unterschiedliche Rechtsfolgen zu beachten und werden auf der Rechtswidrigkeitsebene und Schuldebene behandelt.
Merke
Wie du mit Sicherheit schon erkannt hast, ähneln sich viele der hier vorgestellten Irrtümer sehr. Unterschiedlich ist oftmals nur, welche Deliktsebene der Irrtum betrifft. So etwa der Verbotsirrtum und der Erlaubnisirrtum, die beide einen Irrtum über die Grenzen von strafbewehrtem Handeln beschreiben. Daher lassen sich die vorgestellten Irrtümer grob in Grundform und Spielarten unterscheiden.
2. Zuungunsten des Täters
Irrtümer, die sich zu Ungunsten des Täters wirken können, sind als umgekehrte Irrtümer zu qualifizieren.
a) In tatsächlicher Hinsicht
aa) Umgekehrter Tatbestandsirrtum (untauglicher Versuch)
Von einem umgekehrten Tatbestandsirrtum spricht man, wenn der Täter Umstände irrig annimmt, die zwar nach seiner Vorstellung den Straftatbestand verwirklichen, tatsächlich aber schon objektiv gar nicht zu einer Tatbestandsverwirklichung führen können.
Definition
Ein untauglicher Versuch liegt vor, wenn die Ausführung des Tatentschlusses - also die Umsetzung der Tat nach der Vorstellung des Täters - entgegen seiner Vorstellung aus tatsächlichen Gründen nicht zur Verwirklichung des Unrechtstatbestandes führen kann.
Ein umgekehrter Tatbestandsirrtum ist grundsätzlich strafbewährt (Umkehrschluss aus § 23 III StGB).
Die tatsächlichen Gründe können sein:
Untaugliches Tatobjekt
Untaugliches Tatmittel (auch aus grobem Unverstand)
Untaugliches Tatsubjekt.
Vernetztes Lernen
Näheres hierzu findest du im Artikel zum Versuch.
Prüfungsstandort dieses Irrtums ist nicht die Ebene des Irrtums (der Tatbestand), sondern die Vorprüfung zur Versuchsstrafbarkeit:
bb) Umgekehrter Irrtum über privilegierende Umstände
In tatsächlicher Hinsicht kann auch der umgekehrte Irrtum über privilegierende Umstände zuungunsten des Täters wirken. Während der “normale” Irrtum über privilegierende Umstände im Sinne des § 16 II StGB den Fall erfasst, dass der Täter irrig das Vorliegen eines privilegierenden Umstandes annimmt (siehe oben), handelt der Täter eines umgekehrten Irrtums über die privilegierenden Umstände in Unkenntnis des Vorliegens von privilegierenden Umständen.
Beispiel
Altenpfleger P ist der “Todesengel” im Altenheim H-GmbH und “verhilft” alten, kränklichen Bewohner zu einem “friedlichen Ende”, indem er den Bewohnern eine Überdosis eines letal wirkenden Medikaments verabreicht. Ihm ist in letzter Zeit 92-jährige Bewohner B ins Auge gefallen, dem er als nächstes “helfen” möchte. P schreitet zur Tat und verabreicht auch dem B eine Überdosis des Medikaments. Dabei weiß P nicht, dass B mehrmals seine Kollegin K ernsthaft und ausdrücklich darum gebeten hat, ihn mittels eines tödlich wirkenden Medikaments “für immer einschlafen” zu lassen.
In objektiver Hinsicht liegt hier der privilegierende Tatbestand des § 216 I 1 StGB vor. Dieser ist aber für den P unbeachtlich, da er keine Kenntnis über das Vorliegen der privilegierenden Umstände hat. Die Fallgruppe bringt in der Regel keine Besonderheit mit sich. Der umgekehrte Irrtum über privilegierende Umstände sollte kurz in der Prüfung von § 216 StGB im Rahmen des Vorsatzes angesprochen werden. Letztlich wirkt dieser Irrtum zulasten des Täters, weil der Täter gerade wegen der Fehlvorstellung, also der Abweichung von Vorstellung und Wirklichkeit, nach dem härteren Gesetz bestraft wird. Der subjektive Tatbestand des § 212 I StGB in Form des Vorsatzes ist jedenfalls gegeben.
b) Irrtum in normativer Hinsicht: Umgekehrter Verbotsirrtum (Wahndelikt)
In normativer Hinsicht ist der umgekehrte Verbotsirrtum, der auch als Wahndelikt bezeichnet wird, zu beachten. Genau genommen wirkt er weder zugunsten noch zuungunsten des Täters, vielmehr kann er als neutral angesehen werden, da die Fehlvorstellung nichts an der fehlenden Strafbarkeit des Täters ändert.
Definition
Ein umgekehrter Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter das Verbotensein seines Handelns zu eigenen Lasten überdehnt. Er irrt also darüber, dass eine Strafnorm das eigene Handeln unter Strafe stellt.
Da es in der Regel nicht zu einer Erfolgsverursachung durch die Person kommt, muss ein Versuch geprüft werden. Hier muss im Rahmen des Prüfungspunktes der Versuchsstrafbarkeit (Vorprüfung) zum untauglichen Versuch abgegrenzt und die fehlende Strafbewehrung festgestellt werden.
Beachtet werden muss der Unterschied zwischen Wahndelikt und straflosen, abergläubischen untauglichen Versuch.
aa) Merkmale Wahndelikt
Der Täter nimmt irrig an, dass sein Verhalten strafbar sei, obwohl es tatsächlich keinen Straftatbestand erfüllt.
Der Täter schätzt den Sachverhalt richtig ein, irrt sich aber in der rechtlichen Bewertung.
Beispiel
Ein verheirateter Mann glaubt fälschlicherweise, dass Ehebruch strafbar sei.
bb) Merkmale abergläubischer strafloser untauglicher Versuch:
Der Täter glaubt, durch übernatürliche oder magische Handlungen eine Straftat zu begehen.
Diese Handlungen sind objektiv wirkungslos und stellen keine reale Gefahr dar.
Beispiel
A ist streng religiös und glaubt, mit Gott in Kontakt zu stehen. Er will seinen Nachbar N tot sehen, weil er gesündigt hat, und gibt abends ein entsprechendes Gebet an Gott ab. Am nächsten Tag stirbt N an einem Herzinfarkt. A denkt, er habe sich nach § 212 I StGB strafbar gemacht.
Gemein haben abergläubischer Versuch und Wahndelikt also die Folge der Straflosigkeit. Unterschieden werden muss anhand der Frage, ob der Täter über die Wirksamkeit seines Handelns, also das Tatmittel, irrt (abergläubischer untauglicher Versuch) oder über die rechtliche Bewertung seines Verhaltens irrt (Wahndelikt).
Merke
Sonderfälle des Wahndelikts (umgekehrter Verbotsirrtum) sind der umgekehrte Erlaubnisirrtum sowie der umgekehrte Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes. Auch hier irrt der Täter zu eigenen Lasten über rechtliche Grenzen. Dazu gleich mehr.
III. Rechtswidrigkeitsebene
Irrtümer, die sich auf die Rechtswidrigkeit der Tat beziehen, sind recht übersichtlich. Grundsätzlich sind hier vor allem Irrtümer zu betrachten, die sich auf das Vorliegen von Umständen beziehen, die den Tatbestand eines Rechtfertigungsgrunds erfüllen würden und Irrtümer, die sich auf die Grenzen eines Rechtfertigungsgrunds beziehen.

1. Zugunsten des Täters
a) In tatsächlicher Hinsicht: Erlaubnistatbestandsirrtum
Zugunsten des Täters auf Rechtswidrigkeitsebene kann zunächst der Erlaubnistatbestandsirrtum (oder Erlaubnistatumstandsirrtum) greifen. Dieser beschreibt einen Irrtum des Täters über das, was tatsächlich vor sich geht. Der Täter nimmt Umstände an, bei deren tatsächlichem Vorliegen ein Rechtfertigungsgrund greifen würde. Der Täter irrt also über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes auf tatsächlicher Ebene.
Definition
Ein Erlaubnistatbestandsirrtum (ETBI) liegt vor, wenn der Täter irrig Umstände annimmt, die bei ihrem tatsächlichen Vorliegen dazu geführt hätten, dass die Handlung des Täters gerechtfertigt gewesen wäre.
Paradebeispiel für einen Erlaubnistatbestandsirrtum ist der Hells-Angels-Fall:
Beispiel
Aufgrund des Verdachts auf Straftaten im Rotlichtmilieu erlässt das AG einen Durchsuchungsbeschluss gegen A, ein Mitglied der „Hells Angels“. Da A als gewaltbereit gilt und eine genehmigte Schusswaffe besitzt, wird das SEK hinzugezogen. Um 6 Uhr morgens dringen die Beamten gewaltsam in sein Haus ein, um A im Schlaf zu überraschen und so eine „stabile Lage“ herzustellen.
A wird durch die Aufbruchgeräusche geweckt. Aufgrund vorheriger konkreter Drohungen vermutet er einen Angriff der verfeindeten „Bandidos“. Da er niemanden erkennen kann und sich die Beamten weder nach dem Anschalten des Lichts noch auf seinen Zuruf („Verpisst Euch!“) hin ausweisen, fühlt er sich in Lebensgefahr. Mit bedingtem Tötungsvorsatz schießt er zweimal auf eine Silhouette hinter einer teilverglasten Tür. Ein Schuss trifft den Polizeibeamten K tödlich.
Im obigen Fall nimmt A irrig an, dass die Bandidos ihre Todesdrohungen wahr machen und ihn töten wollen. In Wahrheit war es die Polizei, die seine Wohnung durchsuchen wollte. A stellt sich also Umstände vor, die ihn rechtfertigen würden, wenn sie tatsächlich vorlägen.
Die Behandlung des ETBI ist stark umstritten, da gesetzlich nicht geregelt. Umstritten ist vor allem, welcher Deliktsebene der ETBI zuzuordnen ist, sodass es sich etabliert hat, den Streit in einem eigenen Prüfungspunkt zwischen (der zunächst zu bejahenden) Rechtswidrigkeit und Schuld zu prüfen.
Problem
Rechtliche Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums
Vorsatzausschließende Ansichten
Lehre von negativen Tatbestandsmerkmalen Rechtfertigungsgründe sind Bestandteile eines Gesamt-Unrechtstatbestands, wobei die einzelnen Rechtfertigungsvoraussetzungen als negative Tatbestandsmerkmale verstanden werden. Das Nichtbestehen dieser negativen Tatbestandsmerkmale (Rechtfertigungsvoraussetzungen) muss ebenfalls vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Nimmt der Täter irrig das Bestehen der Rechtfertigungsvoraussetzungen an, kann er keinen Vorsatz hinsichtlich des Nichtbestehens haben, sodass er einem direkten Tatbestandsirrtum nach § 16 I 1 StGB unterliegt.
Rechtsfolge: Vorsatzentfall gemäß § 16 I 1 StGB
Eingeschränkte Schuldtheorie Beim ETBI handelt es sich um einen Tatsachenirrtum (der Täter will an sich rechtstreu handeln), der wie ein Tatbestandsirrtum zu behandeln sei.
Rechtsfolge: Vorsatz entfällt gemäß § 16 I 1 StGB analog
II. Schuldausschließende Ansichten
Strenge Schuldtheorie § 16 I 1 StGB kann nur angewendet werden, wenn sich der Irrtum auf die Tatbestandsmerkmale bezieht. Beim ETBI irrt der Täter aber über Rechtfertigungsmerkmale, sodass § 17 StGB Anwendung findet.
Rechtsfolge: Entfall der Schuld, wenn Irrtum unvermeidbar, § 17 S. 1 StGB
Rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie (h.M.) Der Vorsatz besteht aus zwei Teilen: (1.) dem Tatbestandsvorsatz, der sich auf den objektiven Tatbestand bezieht und dem (2.) Schuldvorsatz, der sich auf die Schuld bezieht. Der Täter muss demnach auch Vorsatz hinsichtlich des Unrechtstatbestands haben, der sich durch den Schuldvorwurf ausdrückt. Nimmt der Täter irrig an, dass die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vorliegen, handelt er zwar hinsichtlich des Tatbestandes vorsätzlich, aber nicht in Bezug darauf, Unrecht zu tun. Fehlt dieser Schuldvorsatz, entfällt die Schuldhaftigkeit der Vorsatztat gemäß § 16 I 1 StGB analog.
Rechtsfolge: Entfall der Schuld gemäß § 16 I 1 StGB analog
III. Stellungnahme
Die vorsatzausschließenden Ansichten können nicht überzeugen, da sie mit erheblichen Strafbarkeitslücken einhergehen. Lässt man den Vorsatz des Täters entfallen, bleiben etwaige bösgläubige Teilnehmer (Anstifter, Gehilfe) ebenfalls straffrei, da die Teilnehmerstrafbarkeit eine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat voraussetzt. Die strenge Schuldtheorie verkennt, dass sich der Täter gerade nicht über die rechtliche Bewertung der Tat irrt (Rechtsirrtum), sondern einer Fehlvorstellung über objektive (tatsächliche) Umstände unterliegt.
Für den Hells-Angels-Fall bedeutet das:
dass A nicht durch § 32 StGB gerechtfertigt ist, da der Polizeieinsatz rechtmäßig war (Kein rechtswidriger Angriff),
dass A auch nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt ist, da keine Gefahr bestand (Gefahrbegriff der §§ 34, 35 StGB umfasst keine Anscheinsgefahr),
dass A wegen eines ETBI, der die Schuld gemäß § 16 I 1 StGB analog (h.M.) entfallen lässt, straflos ist (weil er keinen Schuldvorsatz aufweist).
Merke
A kann aber auch nach herrschender Meinung noch wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts bestraft werden (fahrlässige Tötung, § 222 StGB), wenn der Irrtum dem Täter vorzuwerfen ist.

b) In rechtlicher Hinsicht: Erlaubnisirrtum
Der Erlaubnisirrtum bezieht sich ebenso wie der Verbotsirrtum auf eine rechtliche Fehlbewertung des Täters. Während der Verbotsirrtum aber Straftatbestände umfasst, bezieht sich der Erlaubnisirrtum darauf, dass der Täter die rechtlichen Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes zu eigenen Gunsten überdehnt oder einen nicht existenten Rechtfertigungsgrund annimmt. Objektiv liegt also schon keine einschlägige Rechtfertigungslage vor.
Merke
Anders als beim ETBI verlässt der Täter objektiv betrachtet schon in seiner Vorstellung den Boden des Rechts, weil er seine Tat anders bewertet, als es der Gesetzgeber tut. Beim ETBI schätzt der Täter die rechtliche Bewertung richtig ein, er verkennt jedoch die äußeren Umstände.
aa) Überdehnung der Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes
Beispiel
Jäger J schießt auf einen Wilderer in seinem Wald, weil er irrtümlich glaubt, dass er als Grundstückseigentümer das Notwehrrecht hat, Eindringlinge mit Waffengewalt zu vertreiben.
In diesem Beispiel überdehnt J die Grenzen der Notwehr zu eigenen Gunsten. Er glaubt, das Töten des Wilderers sei von seinem Notwehrrecht gedeckt, obwohl die Notwehr keinerlei solche Verteidigungshandlung duldet (Grenzen der Gebotenheit überschritten wegen krassem Missverhältnis von angegriffenem Rechtsgut und verteidigtem Rechtsgut).
bb) Annahme eines nicht existenten Rechtfertigungsgrundes
Beispiel
Ehemann M ohrfeigt seine Ehefrau F, wegen “Fehlverhaltens”. Er geht dabei davon aus, dass dies wegen des “ehelichen Züchtigungsrechts” erlaubt sei.
In Wahrheit besteht kein “eheliches Züchtigungsrecht”. M nimmt einen Rechtfertigungsgrund an, den es so nicht gibt.
cc) Rechtsfolge
Der Erlaubnisirrtum wird wie der Verbotsirrtum behandelt. Entgegen seiner Vorstellung handelt er also rechtswidrig. Die auf der Ebene der Schuld zu prüfende Frage, ob der Täter einem schuldausschließenden Irrtum unterliegt, weil ihm das Unrechtsbewusstsein fehlt, hängt davon ab, ob der Irrtum vermeidbar (§ 17 S. 2 StGB) oder unvermeidbar (§ 17 S. 1 StGB) war. Siehe dazu oben unter Verbotsirrtum.
2. Zuungunsten des Täters
a) In tatsächlicher Hinsicht: Umgekehrter Erlaubnistatbestandsirrtum
Nimmt ein Täter irrig Umstände an, die seine Tathandlung rechtfertigen würden, handelt es sich um einen einfachen Erlaubnistatbestandsirrtum (ETBI). Auf der anderen Seite kann der Täter aber auch in Unkenntnis über das Vorliegen einer rechtfertigenden Lage handeln (umgekehrter ETBI). Objektiv liegen also Umstände vor, die einen Rechtfertigungsgrund erfüllen, der Täter kennt diese Umstände aber nicht.
Beispiel
A und B sind verfeindet und hatten bereits mehrere Auseinandersetzungen. Am Vorabend schickt B A eine Sprachnachricht, in der er vorgibt, sich versöhnen zu wollen. Als sie sich abends in einem Club begegnen, läuft B schnellen Schrittes auf A zu.
A geht davon aus, dass B sich entschuldigen will, aber er beschließt dennoch, ihn ins Gesicht zu schlagen, um ihm eine „unmissverständliche Botschaft“ zu senden. In Wahrheit hatte B jedoch die Entschuldigungsnachricht nur als Täuschung geschickt, um A in Sicherheit zu wiegen – tatsächlich will er A schlagen.
Als B bei A ankommt und zum Schlag ausholt, kommt A ihm zuvor und schlägt ihn zuerst. A erkennt nicht, dass B ihn schlagen will, sondern geht davon aus, dass B ihn umarmen will.
Im obigen Beispiel liegt ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des B vor, indem er zum Schlag ausholt. Die Notwehrhandlung des A ist objektiv erforderlich und geboten. A erkennt aber nicht, dass er in Wirklichkeit in Notwehr handelt, sondern glaubt, er handle ohne Rechtfertigung.
Konkret fehlt hier das subjektive Rechtfertigungselement, sodass der Streit rund um das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes geführt werden muss. Dieser Meinungsstreit ist bereits in den Artikeln der jeweiligen Rechtfertigungsgründe (Notwehr, rechtfertigender Notstand, Festnahmerecht) aufgeführt, sodass hierauf verwiesen werden kann.
Merke
Aber Achtung! Der Meinungsstreit ergibt sich hier aus anderen Gründen, muss also anders hergeleitet werden:
Liegt eine Rechtfertigungslage vor, erkennt der Täter diese aber nicht, liegen Vorstellung und Wirklichkeit auseinander, sodass ein umgekehrter ETBI vorliegt. Dem Täter fehlt das subjektive Rechtfertigungsmerkmal in Gänze.
Im Rahmen der meisten Rechtfertigungsgründe gibt es einen Streit darüber, welche Qualität das subjektive Rechtfertigungselement aufweisen muss. Die herrschende Meinung setzt meistens kumulativ zur Kenntnis des Täters von der Rechtfertigungslage noch die Absicht voraus, den Angriff (Verteidigungsabsicht) bzw. die Gefahr (Gefahrabwendungswille) auch abzuwenden. Handelt der Täter in Kenntnis der Rechtfertigungslage, handelt er aber ohne Verteidigungsabsicht (Notwehr) oder Gefahrabwendungswille (rechtfertigender Notstand), kann sich hieraus ebenfalls ergeben, dass der Streit rund um das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements geführt werden muss. Aber eben nicht, weil ein Irrtum vorliegt, sondern weil die Anforderungen an das subjektive Rechtfertigungselement nicht erfüllt werden.
Kurz:
Handelt der Täter gänzlich ohne Kenntnis der objektiven Rechtfertigungslage, liegt ein umgekehrter ETBI vor und der Streit muss geführt werden.
Erkennt der Täter die objektive Rechtfertigungslage, handelt er aber nicht in der Absicht, den Angriff bzw. die Gefahr auch abwenden zu wollen, muss der Streit geführt werden, weil die qualitativen Anforderungen an das subjektive Rechtfertigungselement nicht erfüllt werden (Kein umgekehrter ETBI).
Die Rechtsfolge des umgekehrten ETBI hängt vom Streitentscheid ab. Nach der herrschenden Meinung scheitert die Vollendungsprüfung wegen fehlenden Erfolgsunrechts (Taterfolg liegt im Einklang mit der Rechtsordnung). Der Täter ist aber wegen Versuchs zu bestrafen, weil ihm das Handlungsunrecht (Tathandlung liegt nicht im Einklang mit der Rechtsordnung) vorgeworfen werden kann.
Die Behandlung des umgekehrten ETBI und die Streitdarstellung müssen sich im Prüfungspunkt subjektives Rechtfertigungselement abspielen.
b) In normativer Hinsicht: Umgekehrter Erlaubnisirrtum
Der umgekehrte Erlaubnisirrtum liegt vor, wenn der Täter die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes zu eigenen Lasten verkürzt. Der Täter handelt also im Gegensatz zum umgekehrten ETBI in Kenntnis der Rechtfertigungslage, geht aber davon aus, dass seine Handlung nicht mehr von dem einschlägigen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist, obwohl in Wahrheit das Gegenteil der Fall ist.
Merke
Während der “normale” Erlaubnisirrtum den Fall behandelt, dass der Täter die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes zu eigenen Gunsten zu weit zieht, behandelt der umgekehrte Erlaubnisirrtum den Fall, dass der Täter die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes zu eigenen Lasten zu eng zieht.
Beispiel
A und B sind verfeindet und schon mehrfach aneinandergeraten. Als sie sich abends in einem Club begegnen, läuft B schnellen Schrittes auf den A zu. A geht zu Recht von einer erneuten Eskalation aus. Als B zum Schlag ausholt, kommt der erfahrene Kampfsportler dem A dem B zuvor und schlägt ihm blitzschnell ins Gesicht. A geht davon aus, im Unrecht zu handeln, weil er glaubt, dass der B ihn zuerst geschlagen haben muss, bevor das Notwehrrecht greift.
Im obigen Beispiel zieht A die Grenzen des Notwehrrechts zu eng. Er glaubt, das Notwehrrecht greife erst, wenn der Angreifende die Rechtsgutsverletzung vollendet. In Wahrheit ist der Angriff im Sinne des § 32 StGB aber schon gegenwärtig, wenn der Angriff kurz bevorsteht. B holte zum Schlag aus, sodass die Rechtsgutsverletzung (körperliche Unversehrtheit) kurz bevorstand. A ist gerechtfertigt.
Die Rechtsfolge ist hier recht einfach: Der umgekehrte Erlaubnisirrtum ist unbeachtlich. Der Täter verstößt weder in seiner Vorstellung noch tatsächlich gegen die Rechtsordnung, er zieht lediglich die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes zu eigenen Lasten zu eng.
IV. Schuldebene
Die Irrtümer auf Schuldebene orientieren sich an den Irrtümern auf Rechtswidrigkeitsebene. Der Unterschied besteht darin, dass sich diese Irrtümer nicht auf Rechtfertigungsgründe, sondern auf Entschuldigungsgründe beziehen.

1. Zugunsten des Täters
a) In tatsächlicher Hinsicht: Entschuldigungstatbestandsirrtum
aa) Grundlagen
Der Entschuldigungstatbestandsirrtum ist das Gegenstück zum Erlaubnistatbestandsirrtum (ETBI) auf Schuldebene. Auch der Entschuldigungsirrtum beschreibt einen Irrtum des Täters über das, was tatsächlich vor sich geht. Der Täter nimmt Umstände an, bei deren tatsächlichem Vorliegen ein Entschuldigungsgrund greifen würde. Der Täter irrt also über das Vorliegen eines Entschuldigungsgrundes auf tatsächlicher Ebene.
Definition
Ein Entschuldigungsirrtum liegt vor, wenn der Täter irrig Umstände annimmt, die bei ihrem tatsächlichen Vorliegen dazu geführt hätten, dass der Täter entschuldigt gewesen wäre.
Anders als der ETBI ist der Entschuldigungstatbestandsirrtum in § 35 II 1 StGB gesetzlich geregelt:
Zitat
§ 35 II StGB:
S. 1: “Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte.”
S. 2: “Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.”
§ 35 II StGB regelt zwar nur den entschuldigenden Irrtum, allerdings ist er analog auf alle Entschuldigungsgründe anwendbar.
Problem
Die genaue Darstellung des Entschuldigungstatbestandsirrtums folgt sogleich im Rahmen der Abgrenzung von Entschuldigungstatbestandsirrtum und dem Irrtum über die rechtlichen Grenzen eines Entschuldigungsgrundes. Diese Abgrenzung kann Probleme bereiten. Insbesondere die Rechtsprechung des BGH zum Haustyrannenfall muss dabei genau betrachtet werden.
Die Rechtsfolge eines Entschuldigungstatbestandsirrtums ist in § 35 II StGB vorgegeben:
Ist der Irrtum vermeidbar, entfällt die Schuldhaftigkeit nicht, allerdings kommt es zu einer obligatorischen Strafmilderung (§ 35 II 2 StGB).
Ist der Irrtum unvermeidbar, handelt der Täter ohne Schuld (§ 35 II 1 StGB) und ist straflos.
Der Entschuldigungstatbestandsirrtum muss im Rahmen der Schuld behandelt werden.
Beispiel
M stößt F bei einem Brand die Treppe herunter, diese stirbt bei dem Sturz. M glaubt, nur so die Person, die er irrig für seine Ehefrau hält, aus einer lebensgefährlichen Situation retten zu können. Er nimmt also irrig die Angehörigen-Eigenschaft der F sowie das Fehlen eines milderen Auswegs an. Träfe seine Vorstellung zu, wäre er gemäß § 35 I StGB entschuldigt.
In obigem Beispiel geht A davon aus, dass es sich bei der Frau, die er die Treppe hinunterstößt, um seine Ehefrau handelt, die die Angehörigeneigenschaft des § 35 I StGB erfüllen würde. Tatsächlich handelt es sich um eine ihm unbekannte Person. A nimmt also irrig einen Umstand an, der einen Entschuldigungsgrund begründen würde. Insofern der Irrtum gemäß § 35 I 1 StGB unvermeidbar war, handelt er ohne Schuld und kann nicht bestraft werden.
bb) Sonderfall: Haustyrannenfall
Die Begründung eines Entschuldigungstatbestandsirrtums stellt sich seit dem Urteil des BGH über den Haustyrannenfall als schwierig dar:
Beispiel
F wird von ihrem Ehemann M über Jahre beleidigt und schwer misshandelt. Auch die gemeinsamen Kinder sind seiner Gewalt ausgesetzt. M droht F, den Kindern etwas anzutun, falls sie ihn verlässt, und warnt sie vor einer Anzeige, da seine Rockerfreunde sie bestrafen würden.
F weiß um die bestehende Gefahr durch M und geht davon aus, dass sie ihn töten kann, ohne bestraft zu werden, weil es aus ihrer Sicht keinen anderen Ausweg gibt. Verzweifelt und der Situation nicht mehr gewachsen, beschließt sie also, M zu töten. Während er schläft, schießt sie mehrfach mit einem Revolver auf ihn. M stirbt.
Strafbarkeit wegen heimtückischen Mordes nach § 211 II 2. Gr., 1 Var. StGB?
Klar ist in diesem Fall, dass die Vorstellung der F, keinen Ausweg zuhaben und die wirkliche Situation auseinanderfallen. F hätte entgegen ihrer Vorstellung die Gefahr, die durch M ausgeht, anders abwenden können. Sie hätte in ein Frauenhaus ziehen oder die Polizei einschalten können, die auch zum Handeln verpflichtet gewesen wäre.
Klar ist auch, dass F nicht gerechtfertigt ist:
Notwehr nach § 32 StGB liegt nicht vor, weil da die vorherigen Attacken beendet waren und damit kein gegenwärtiger Angriff vorliegt (§ 32 StGB umfasst anders als der rechtfertigende und entschuldigende Notstand die sog. Dauergefahr nicht).
Auch ein rechtfertigender Notstand liegt nicht vor, da die Notstandshandlung durch das generelle Abwägungsverbot von Leben gegen Leben nicht angemessen ist.
Klar ist ferner, dass F nicht durch § 35 I StGB entschuldigt ist, da die Gefahr - wie bereits beschrieben - anders abwendbar gewesen wäre.
Fraglich ist aber, worin genau der Irrtum der F liegt:
Irrige Annahme einer (nicht anwendbaren) Gefahr
Insofern man (wie der BGH) annimmt, dass der Umstand, dass die Gefahr anders abwendbar war, bereits das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 35 I StGB, also die Notstandslage ausschließt, irrt F über das Vorliegen von Umständen, die einen Entschuldigungstatbestandsirrtum begründen. Sie nimmt also irrig an, dass eine Notstandslage vorliegt und irrt sich in tatsächlicher Hinsicht. Folge: § 35 II StGB wäre anwendbar (Strafmilderung bei Vermeidbarkeit des Irrtums, § 35 II S. 2 und S. 1 StGB oder Schuldausschluss bei Unvermeidbarkeit, § 35 II 1 StGB).
Irrige Annahme der Erforderlichkeit der Tathandlung
Insofern man annimmt, dass die Frage, ob die Gefahr anders abgewendet werden konnte, eine Frage der Erforderlichkeit der Nötigungshandlung ist (Hat F das relativ mildeste Mittel gewählt?), irrt F über den Umstand, dass kein milderes Mittel zur Verfügung stand. Sie geht also davon aus, dass ihre Tötungshandlung die einzige Möglichkeit war, die Gefahr abzuwenden, obwohl die Handlung in Wahrheit nicht erforderlich war und § 35 I StGB nicht greift. Folge: § 35 II StGB wäre ebenso anwendbar (Strafmilderung bei Vermeidbarkeit des Irrtums, § 35 II S. 2 und S. 1 StGB oder Schuldausschluss bei Unvermeidbarkeit, § 35 II 1 StGB).
Merke
Eine ganz genaue Darstellung dieser Problematik ist nicht erforderlich. Es genügt, den Haustyrannenfall - wie der BGH auch - darin zu sehen, dass schon gar keine Gefahr vorliegt, wie eine Gefahr nur dann gegeben ist, wenn sie nicht anders abwendbar ist.
b) In rechtlicher Hinsicht: Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes
In Abgrenzung zum Entschuldigungstatbestandsirrtum und in Anlehnung an den Erlaubnisirrtum irrt der Täter beim Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes über die rechtlichen Grenzen eines Entschuldigungsgrundes (zumeist § 35 StGB). Der Täter geht also davon aus, dass seine (Entschuldigungs-)Handlung noch von den Grenzen eines Entschuldigungsgrundes gedeckt ist, obwohl das in Wahrheit nicht der Fall ist.
Allerdings muss klar zwischen Erlaubnisirrtum (Irrtum über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes) und dem Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes unterschieden werden.
Die Rechtsfolge des Erlaubnisirrtums richtet sich nach § 17 StGB: Ist der Erlaubnisirrtum vermeidbar (§ 17 S. 2 StGB) kommt es zu einer Strafmilderung nach § 49 I StGB; ist er unvermeidbar (§ 17 S. 1 StGB) entfällt die Schuld.
Der Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes ist hingegen unbeachtlich; der Täter handelt schuldhaft.
Dieses Ergebnis scheint erst einmal unbillig: Wieso soll der Täter, der die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes zu weit zieht, besser stehen als der Täter, der die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes zu weit zieht?
Die Antwort ist relativ simpel:
Beim Erlaubnisirrtum glaubt der Täter fälschlicherweise, dass seine Tat rechtlich erlaubt, also von der Rechtsordnung toleriert ist.
Ein Entschuldigungsgrund hebt hingegen nicht die Rechtswidrigkeit auf, sondern nur die Schuld. Bei einem Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes glaubt der Täter nicht, dass seine Tat rechtmäßig ist – sondern nur, dass er nicht bestraft wird. Dieser Irrtum über die Schuldminderung (nicht über die Frage des Erlaubtseins der Tat) soll nicht zu einer Privilegierung des Täters führen.
Der Entschuldigungstatbestandsirrtum muss im Rahmen der Schuld behandelt werden.
Beispiel
Die Tochter T des A ist in einer finanziellen Notlage. Daher hatte sie sich von einem Kredithai H Geld geliehen. Dieser will nun sein Geld zurück und droht ihm damit, seine gesamte Wohnung leerzuräumen und alles zu verkaufen, was T besitzt, damit er sein Geld wiederbekommt. A beschließt, seiner Tochter in dieser ausweglosen Situation zu helfen und glaubt unter diesen Umständen entschuldigt zu sein (§ 35 I StGB). In der Annahme, die Vermögensgefahr, die seiner Tochter droht, reiche für § 35 I StGB aus, überfällt er eine Bank B und erbeutet 100.000 €.
In diesem Beispiel ist klar:
A ist nicht gemäß § 32 StGB gerechtfertigt, da sich seine Tathandlung - unabhängig von der Frage, ob überhaupt ein Angriff vorliegt - nicht gegen den Angreifer H richtet (Verteidigungshandlung), sondern die Bank B
A ist nicht gemäß § 34 StGB gerechtfertigt, da seine Notstandslage weder erforderlich noch angemessen ist
A ist nicht gemäß § 35 StGB entschuldigt, da kein notstandsfähiges Rechtsgut betroffen ist (Vermögensgefahr)
Allerdings überdehnt A die rechtlichen Grenzen des § 35 I StGB, indem er glaubt, dass § 35 I StGB auch eine Vermögensgefahr für seine Tochter T umfasst, obwohl das in Wahrheit nicht der Fall ist. Aufgrund der bereits angesprochenen Unbeachtlichkeit dieses Irrtums, kann A voll zur Verantwortung gezogen werden (§ 249 I StGB).
Merke
Der Unterschied liegt hier erneut im Detail:
Während die F im Hautyrannenfall eine Gefahr für das eigene Leib und Leben und das ihrer Kinder irrig annimmt, weil sie denkt, die Gefahr sei nicht anders abwendbar (tatsächliche Ebene)
denkt A in diesem Fall, dass § 35 I StGB auch eine Vermögensgefahr umfasst, die ja auch tatsächlich vorliegt (rechtliche Ebene).
2. Zuungunsten des Täters
Zuletzt sind noch die umgekehrten Irrtümer auf Schuldebene zu betrachten, die vergleichbar mit den umgekehrten Irrtümern auf Rechtswidrigkeitsebene sind.
a) In tatsächlicher Hinsicht: Umgekehrter Entschuldigungstatbestandsirrtum
Beim umgekehrten Entschuldigungsirrtum weiß der Täter nicht, dass Umstände vorliegen, die einen Entschuldigungsgrund begründen. Der Täter nimmt also eine Verletzungshandlung vor, ohne zu wissen, dass objektiv ein Entschuldigungsgrund vorliegt. Ihm fehlt folglich das subjektive Entschuldigungselement (etwa der Gefahrabwendungswille im Rahmen des § 35 I StGB). Weil subjektive und objektive Entschuldigungselemente gleichwertig sind, scheitert die Prüfung des Entschuldigungsgrundes. Der Täter handelt voll schuldhaft.
Diese Fälle sind kaum denkbar, da der Täter sich meistens bereits in einem umgekehrten Erlaubnistatbestandsirrtum befindet.
Beispiel
Abwandlung des Weichenstellerfalls
Ein außer Kontrolle geratener Güterzug rast auf eine Schienengabelung zu. Auf beiden Schienenstrecken (SA und SB) stehen Gleisarbeiter, die bei entsprechender Weichenstellung jeweils getötet würden. Weichensteller W erkennt die Zwangslage jedoch nicht, da er von den Gleisarbeiten auf der Strecke SA keine Kenntnis hat. Er weiß nur von den Gleisarbeitern auf der Strecke SB. Der Weichensteller leitet den außer Kontrolle geratenen Zug trotzdem auf die Strecke SB, weil unter den dortigen Arbeitern auch der neue Freund seiner Ex-Frau ist, den er “aus dem Weg haben will”. Er leitet den Zug auf die Strecke AB. Die Gleisarbeiter sterben.
Im obigen Beispiel liegt objektiv eine übergesetzliche Notstandslage vor, allerdings weiß W nicht von dieser Zwangslage. Ihm fehlt folglich der Gefahrabwendungswille im Rahmen des übergesetzlichen Notstands. W ist voll verantwortbar.
Der umgekehrte Erlaubnistatbestandsirrtum muss kurz im Rahmen des subjektiven Entschuldigungselementes angesprochen werden.
b) In rechtlicher Hinsicht: Umgekehrter Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes
Der umgekehrte Irrtum über die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes liegt vor, wenn der Täter die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Entschuldigungsgrundes zu eigenen Lasten verkürzt. Der Täter handelt also im Gegensatz zum umgekehrten Entschuldigungstatbestandsirrtum in Kenntnis der Entschuldigungslage, geht aber davon aus, dass seine Handlung nicht mehr von dem einschlägigen Entschuldigungsgrund gedeckt ist, obwohl in Wahrheit das Gegenteil der Fall ist.
Auch hier ist die Rechtsfolge recht einfach: Der umgekehrte Entschuldigungstatbestandsirrtum ist unbeachtlich. Der Täter weiß, dass eine Entschuldigungslage vorliegt und weist auch Gefahrabwendungswille auf, er zieht lediglich die Grenzen eines Entschuldigungsgrundes zu eigenen Lasten zu eng. Der Täter ist entschuldigt.
Merke
Abgewandelter Bergsteiger-Fall:
A, B und C sind erfahrene Bergsteiger und klettern regelmäßig zusammen riskante Bergtouren. Als sich ein Gesteinsbrocken löst, verlieren A, B und C den Halt und werden nur noch durch einen Karabinerhaken gehalten. Dieser hält dem Gewicht der drei aber nicht mehr Stand und beginnt sich zu lösen. A, der ganz oben an der Sicherungsleine hängt, durchtrennt das Seil unter ihm mit einem Messer, um sein eigenes Leben zu retten. Dabei geht er davon aus, dass er nur hinsichtlich eines Todes entschuldigt ist, “weil ein Leben gegen ein anderes geopfert werden kann, aber nicht zwei für ein Leben”. B und C stürzen 600 m in die Tiefe und sterben.
Im obigen Beispiel zieht A die Grenzen des Entschuldigungsgrundes (§ 35 I StGB) zu eigenen Lasten zu eng. Allerdings handelte er mit Gefahrabwendungswillen. Der Irrtum ist daher unbeachtlich, A ist nach § 35 I StGB entschuldigt.

