I. Einleitung
Eine weitere Grenze der Gestaltungsfreiheit ist in § 138 BGB normiert. Hiernach sind sittenwidrige Rechtsgeschäfte nichtig. Im Gegensatz zur Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nach § 134 BGB ist die Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit nicht so eindeutig bestimmt. Der Gesetzgeber hat auf diese Weise die Möglichkeit geschaffen, dass die Rechtsprechung durch Auslegung des Begriffs der Sittenwidrigkeit die aktuellen Wertvorstellungen der Gesellschaft berücksichtigen kann.
Bei der Anwendung des § 138 BGB ist zwischen § 138 I BGB und § 138 II BGB zu differenzieren. Während § 138 I BGB alle sittenwidrigen Rechtsgeschäfte umfasst, geht es in § 138 II BGB um den Wucher als Spezialfall eines sittenwidrigen Rechtsgeschäfts.
II. Wucher, § 138 II BGB
Der Wucher stellt einen Sonderfall des sittenwidrigen Rechtsgeschäfts dar.
Merke
§ 138 II BGB ist gegenüber § 138 I BGB lex specialis und vor diesem zu prüfen.
1. Voraussetzungen
Wucher setzt ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung voraus. Von einem solchen ist in der Regel auszugehen, wenn die Gegenleistung zu 100 % über dem Marktpreis liegt. Außerdem muss das Rechtsgeschäft unter Ausnutzung der Zwangslage, Unerfahrenheit, des mangelnden Urteilsvermögens oder einer erheblichen Willensschwäche erfolgen.
In subjektiver Hinsicht ist sowohl die Kenntnis des auffälligen Missverhältnisses als auch der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des mangelnden Urteilsvermögens oder der erheblichen Willensschwäche erforderlich. Damit muss Vorsatz vorliegen.
2. Rechtsfolge
Nichtig ist nicht nur das Verpflichtungsgeschäft („versprechen lässt“), sondern auch das Erfüllungsgeschäft und Sicherungsgeschäfte (Bürgschaft, Hypothek, Grundschuld) zu Gunsten des Wucherers („gewähren lässt“).
Nach § 138 II BGB nichtige Rechtsgeschäfte werden damit nach §§ 985, 894 BGB rückabgewickelt.
Merke
Wirksam ist hingegen das Erfüllungsgeschäft des Wucherers.
Gesetzesverweis
Sofern es in deinem Bundesland zulässig ist, kannst du dir die, § 985 BGB, § 894 BGB neben den § 138 II BGB, um die Anspruchsgrundlagen für die Rückabwicklung auf einen Blick zu haben.
Leistet der Bewucherte Geld, so erwirbt der Wucherer ungeachtet der Unwirksamkeit der Übereignung nach §§ 948, 947 II BGB Eigentum, sobald er das Geld des Bewucherten mit eigenem Geld vermischt (originärer, gesetzlicher Eigentumserwerb).
Die Rückabwicklung erfolgt dann nach §§ 951 I 1, 812 I 1 Var. 2 BGB.
III. Sittenwidrige Rechtsgeschäfte, § 138 I BGB
Außerdem können Rechtsgeschäfte nach § 138 I BGB sittenwidrig sein. Hierbei ist ein Verstoß gegen die guten Sitten erforderlich.
1. Gute Sitten
Die guten Sitten im Sinne des § 138 I BGB bestimmen sich nach dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden.
Verstöße gegen die guten Sitten sind unter Berücksichtigung aller Umstände festzustellen. Zu berücksichtigen sind etwa der Inhalt des Rechtsgeschäfts, der Zweck des Rechtsgeschäfts, die Beweggründe der Parteien sowie deren Verhalten vor Abschluss des Rechtsgeschäfts.
Nach der Rechtsprechung des BGH ist erforderlich, dass das Rechtsgeschäft nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter mit grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren ist. Ein klassischer Anwendungsfall dieser Rechtsprechung ist die sogenannte Angehörigenbürgschaft.
Klausurtipp
In der Klausur kommt es darauf an, alle Sachverhaltsangaben gründlich zu verwerten. Es kommt auf eine überzeugende Argumentation unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls an.
Bloße Billigkeitserwägungen sind hier fehl am Platz!
Beispiel
Fall
Sohn S wird von der Bank B massiv dazu gedrängt, eine Bürgschaftserklärung zur Sicherung der Forderungen, die gegen seinen Vater V bestehen, abzugeben. B betont hierbei stets, dass es selbstverständlich sei, sich innerhalb der Familie zu helfen und S seinen verschuldeten Vater nicht im Stich lassen könne. Die Haftungssumme liegt erheblich über dem Vermögen des arbeitslosen S. Er wäre nicht einmal dazu in der Lage, die laufenden Zinsen der Hauptschuld aufzubringen.
Lösung
Es handelt sich um eine sittenwidrige Angehörigenbürgschaft. Die Bank setzt den S unter Druck und macht sich dabei zunutze, dass der Hauptschuldner V Familienangehöriger des S ist und sich aus diesem Grund eher dazu verpflichtet fühlt, die Bürgschaft einzugehen. Der Beweggrund für die Bürgschaft ist der von der Bank ausgeübte Druck unter Betonung der emotionalen Bindung des S zu V. B nutzt die Verwandtschaft zwischen S und V regelrecht aus.
Auch der Inhalt der Bürgschaft ist danach zu betrachten, ob der Bürge finanziell krass überfordert. Ob der Bürge durch eine Bürgschaft finanziell krass überfordert wird, ist allein aufgrund seiner eigenen Vermögensverhältnisse, nicht auch derjenigen des Hauptschuldners zu beurteilen. Eine solche Überforderung liegt jedenfalls vor, wenn der Bürge voraussichtlich nicht einmal die laufenden Zinsen der Hauptschuld aufzubringen vermag. Die Haftungssumme ist derart hoch, dass sie den S krass finanziell überfordert.
Im Rahmen der Sittenwidrigkeit sind oftmals bestimmte Fallgruppen einschlägig, mit Hilfe derer die Rechtsprechung die Sittenwidrigkeit bereits konkretisiert hat.
Diese lassen sich systematisieren, indem man unterscheidet, wem gegenüber die Sittenwidrigkeit begründet wird.
a) Sittenwidrigkeit gegenüber dem Geschäftspartner
Sittenwidrigkeit gegenüber dem Geschäftspartner besteht bei wucherähnlichen Rechtsgeschäften, bei Schuldnerknebelung und dem Ausnutzen einer Monopolstellung.
In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass der Handelnde die Tatsachen, welche die Sittenwidrigkeit begründen, kennt oder grob fahrlässig verkennt.
aa) Wucherähnliche Rechtsgeschäfte
Lässt sich die beim Wucher nach § 138 II BGB auf subjektiver Seite erforderliche Ausbeutung (Vorsatz erforderlich!) nicht nachweisen, kann ein Geschäft nach § 138 I BGB als wucherähnliches Rechtsgeschäft sittenwidrig sein, wenn ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht.
Auf subjektiver Seite ist außerdem eine verwerfliche Gesinnung erforderlich. Diese kann grundsätzlich angesichts des groben Missverhältnisses vermutet werden.
Beispiel
Darlehen, insbesondere an einen Verbraucher, mit sehr hohen Zinsen;
„Wuchermiete“
Merke
Die Lehre vom wucherähnlichen Rechtsgeschäft führt zu einem doppelten Anscheinsbeweis hinsichtlich der Voraussetzungen des § 138 I BGB:
dafür, dass die unterlegene Seite nur wegen der besonderen Zwangslage oder aus persönlicher Unerfahrenheit einigungsbereit war und
dafür, dass die andere Seite dies erkannt hat.
Das muss man sich (leider) einfach merken.
Beispiel
V stellt seinen gebrauchten Pkw (Wert: 5.250 €) für zehn Tage zur Internetauktion bei eBay mit einem Startpreis von einem Euro ein. K nahm das Angebot wenige Minuten später an. Nach rund sieben Stunden brach V die Aktion unberechtigt ab. Da K zu dieser Zeit der einzige Bieter war, kam ein Kaufvertrag über 1 € zustande.
Hat K einen Anspruch auf Lieferung des Pkw Zug um Zug gegen Zahlung von 1 €?
K könnte gegen V einen Anspruch auf Lieferung des Pkw aus Kaufvertrag gemäß § 433 I 1 BGB haben. Ein Kaufvertrag wurde geschlossen. Der Vertrag könnte jedoch nach § 138 I BGB angesichts des niedrigen Kaufpreises im Vergleich zum objektiven Wert des Pkw nichtig sein. Hierzu müsste ein wucherähnliches Rechtsgeschäft vorliegen.
Bei einer Internetauktion rechtfertigt ein grobes Missverhältnis zwischen dem Maximalgebot eines Bieters und dem Wert des Versteigerungsobjekts nicht ohne Weiteres den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Bieters.
Der Bieter muss sein Gebot nicht am mutmaßlichen Marktwert ausrichten. Schließlich macht es gerade den Reiz einer Internetauktion aus, etwas zu einem Schnäppchenpreis zu erwerben. Umgekehrt nimmt der Veräußerer die Chance wahr, durch den Mechanismus des Überbietens einen für ihn vorteilhaften Preis zu erzielen.
Damit ist der Kaufvertrag nicht nach § 138 I BGB nichtig.
bb) Schuldnerknebelung
Eine Schuldnerknebelung kommt in Betracht, wenn das Rechtsgeschäft dem Schuldner jeden geschäftlichen oder persönlichen Handlungsspielraum nimmt.
Genaueres zur Schuldnerknebelung bei einer Globalzession, die mit einem verlängerten Eigentumsvorbehalt kollidiert, findest du hier.
b) Sittenwidrigkeit gegenüber Dritten
Sittenwidrigkeit wird gegenüber Dritten begründet, wenn es sich um eine Gläubigergefährdung, eine Verleitung zum Vertragsbruch oder Schmiergeldverträge handelt.
aa) Gläubigergefährdung
Eine Gläubigergefährdung kommt in Betracht, wenn ein Schuldner kurzfristig mit Geld ausgestattet wird, um seine Kreditwürdigkeit vorzutäuschen.
bb) Verleitung zum Vertragsbruch
Genaueres zur Verleitung zum Vertragsbruch bei einer Globalzession, die mit einem verlängerten Eigentumsvorbehalt kollidiert, findest du hier.
In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass der Handelnde die Tatsachen, welche die Sittenwidrigkeit begründen, kennt oder grob fahrlässig verkennt.
cc) Schmiergeldverträge
Sittenwidrig können auch Verträge sein, die überhaupt erst durch einen „finanziellen Anstoß“ zustande kommen sind. Die Sittenwidrigkeit ist zu bejahen, wenn die Schmiergeldzahlung zum einen sachlich nicht gerechtfertigten Vertragsschluss führt und gleichzeitig einen Nachteil für die andere Vertragspartei mit sich bringt.
c) Sittenwidrigkeit gegenüber der Allgemeinheit
aa) Sexualsphäre
Eine Sittenwidrigkeit gegenüber der Allgemeinheit kommt in Betracht, wenn Rechtsgeschäfte in der Sexualsphäre abgeschlossen werden.
Merke
Prostitution, allerdings derzeit Schutz der Prostituierten durch § 1 S. 1 ProstG;
Geliebtentestament (siehe Erbrecht)
bb) Anstößige Kommerzialisierung / Standeswidrige Rechtsgeschäfte
Weitere Fallgruppen sind die anstößige Kommerzialisierung und die standeswidrigen Rechtsgeschäfte.
Beispiel
Kauf eines Dr.-Titels
Auf der subjektiven Seite ist erforderlich, dass alle Vertragspartner die Tatsachen, die die Sittenwidrigkeit begründen, kennen oder grob fahrlässig verkennen.
2. Rechtsgeschäft
Wie schon bei § 134 BGB, ist unter einem Rechtsgeschäft im Sinne des § 138 BGB nicht nur das Verpflichtungs-, sondern auch das Verfügungsgeschäft zu verstehen.
Merke
Wegen des Abstraktionsprinzips schlägt die Nichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts nicht auf die Verfügungsgeschäfte durch, sie müssen vielmehr selbst sittenwidrig sein.
Die Sittenwidrigkeit eines Verfügungsgeschäfts ist die absolute Ausnahme. Verfügungsgeschäfte sind in der Regel nämlich wertneutral. Man sieht ihnen nicht an, warum sie vorgenommen worden sind.
Ein klausurrelevantes Beispiel für ein ausnahmsweise sittenwidriges Verfügungsgeschäft stellt die Globalzession, die mit dem verlängerten Eigentumsvorbehalt kollidiert dar. Warum diese sittenwidrig ist, kannst du hier nachlesen.
3. Rechtsfolge
Ein sittenwidriges Rechtsgeschäft ist nichtig. Es ist ex tunc und damit von Anfang an unwirksam.
Die Nichtigkeit begründet eine rechtshindernde Einwendung.
Ein sittenwidriges schuldrechtliches Geschäft löst keine Pflichten aus.
Beispiel
Sittenwidriger Darlehens- oder Mietvertrag
Ein sittenwidriges Verfügungsgeschäft führt zu keiner Rechtsänderung.
4. Rückabwicklung sittenwidriger Rechtsgeschäfte
Bei der Rückabwicklung sittenwidriger Geschäfte ist danach zu differenzieren, ob die Nichtigkeit das Verpflichtungs- oder auch das Verfügungsgeschäft betrifft.
a) Sittenwidrigkeit des Verpflichtungsgeschäfts
Ist nur das Verpflichtungsgeschäft sittenwidrig, erfolgt die Rückabwicklung nach § 812 I 1 Var. 1 BGB. Wegen des Abstraktionsprinzips bleibt das Verfügungsgeschäft wirksam. Dieses ist jedoch angesichts der Nichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts ohne rechtlichen Grund erfolgt, sodass nach Bereicherungsrecht rückabzuwickeln ist. Auch hier ist der Ausschlussgrund des § 817 S. 2 BGB zu beachten.
b) Sittenwidrigkeit des Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäfts
Bei einem zusätzlich sittenwidrigem Verfügungsgeschäft wird nach §§ 985,894 BGB rückabgewickelt. Das Verfügungsgeschäft entfaltet aufgrund seiner Nichtigkeit keine Rechtswirkungen. Die dingliche Rechtslage ist trotz des Geschäfts unverändert geblieben, sodass im Rahmen der Rückabwicklung dingliche Ansprüche greifen.
Gesetzesverweis
Sofern es in deinem Bundesland zulässig ist, kannst du dir die § 812 I 1 Var. 1 BGB, § 985 BGB, § 894 BGB neben den § 138 I BGB, um die Anspruchsgrundlagen für die Rückabwicklung auf einen Blick zu haben. Außerdem kannst du dir den § 817 S. 2 BGB neben den § 138 I BGB kommentieren, um an diesen Ausschlussgrund zu denken.