Constellatio Logo Icon
InhalteFeaturesLernpfadePreisBlogNewsÜber unsAnmelden

Strafrecht

/

AT

/

Rechtswidrigkeit

Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB)

Teilgebiet

AT

Thema

Rechtswidrigkeit

Tags

Güterabwägung
Notstandslage
Gegenwärtige Gefahr
Rangverhältnis
Rechtsgüter
Dauergefahr
Gegenwärtigkeit
Nötigungsnotstand
Subjektives Rechtfertigungselement
Rechtfertigender Notstand
Notstand
Notwehr
Art. 103 GG
Art. 2 GG
Art. 1 GG
§ 228 StGB
§ 34 StGB
§ 35 StGB
§ 32 StGB
§ 212 StGB
§ 239 StGB
§ 249 StGB
§ 315c StGB
§ 323c StGB
Gliederung
  • I. Notstand und Notstandshilfe

  • II. Prüfungsstandort

  • III. Notstandslage

    • 1. Rechtsgut

  • IV. Gegenwärtige Gefahr

  • V. Notstandshandlung

    • 1. Erforderlichkeit

    • 2. Interessenabwägung

      • a) Rangverhältnis

      • b) Grad der Gefahr

      • c) Umfang des Schadens

    • 3. Angemessenheit

      • a) Generelle Abwägungsverbote

      • b) Sonstige oberste Rechtsprinzipien

        • aa) Nötigungsnotstand

      • c) Besondere Duldungspflichten des Täters

        • aa) Kein Notstand gegen Notwehr

        • bb) Besondere Rechtsstellung

        • cc) Verschulden der Notstandslage

  • VI. Gefahrabwendungswille

Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem rechtfertigenden Notstand. Der rechtfertigende Notstand gemäß § 34 StGB ist ein Rechtfertigungsgrund, der das Unrecht einer Tat ausschließt, wenn diese zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr erforderlich ist. § 34 StGB erlaubt es, in einer Gefahrenlage ein Rechtsgut zu beeinträchtigen, um ein höherwertiges Rechtsgut zu schützen, sofern die Abwägung der betroffenen Interessen dies rechtfertigt. Dieses Prinzip folgt dem Gedanken, dass in bestimmten Notsituationen der Schutz eines höherwertigen Rechtsguts Vorrang haben muss. Der rechtfertigende Notstand setzt im Vergleich zur Notwehr nach § 32 StGB jedoch noch strengere Voraussetzungen voraus: Es muss eine gegenwärtige Gefahr bestehen, die Handlung muss erforderlich sein, und das geschützte Rechtsgut muss das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich überwiegen. Die folgenden Abschnitte erläutern diese Voraussetzungen im Detail.

Vernetztes Lernen

Aufgrund ähnlicher Prüfungsschemata sowie Überschneidungen der typischen Fallkonstellationen wird empfohlen, die Artikel zur Notwehr (§ 32 StGB), zum rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), zum entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) und zum übergesetzlichen Notstand (§ 35 StGB analog) nacheinander zu bearbeiten.

  1. Artikel zur Notwehr, § 32 StGB

  2. Artikel zum rechtfertigenden Notstand, § 34 StGB (baut auf dem Artikel zur Notwehr auf)

  3. Artikel zum entschuldigenden Notstand, § 35 StGB (baut auf dem Artikel zum rechtfertigenden Notstand auf)

  4. Artikel zum übergesetzlichen entschuldigenden Notstand, § 35 StGB analog (baut auf dem Artikel zum entschuldigenden Notstand auf)!

I. Notstand und Notstandshilfe

Zitat

§ 34 Satz 1 StGB:

“Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.”

§ 34 Satz 2 StGB:

“Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.”

Der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB umfasst sowohl die Abwehr einer Gefahr für eigene Rechtsgüter als auch für die Rechtsgüter Dritter. Der Wortlaut des § 34 S. 1 StGB erlaubt - ähnlich dem Wortlaut der Notwehr - sowohl die Abwehr einer Gefahr, die die eigenen Interessen betrifft, als auch die Abwehr von Gefahren für fremde Rechtsgüter. In beiden Fällen ist das Ziel, eine gegenwärtige Gefahr von einem höherwertigen Rechtsgut abzuwenden, wobei die Abwehrhandlung erforderlich und verhältnismäßig sein muss. Die Prüfungsschemata sind im Wesentlichen identisch. Im Rahmen des Prüfungspunktes „Rechtsgut“ muss jedoch hervorgehoben werden, dass nicht nur das eigene Rechtsgut betroffen sein darf, sondern auch das Rechtsgut einer anderen Person zum rechtfertigenden Notstand führen kann.

Merke

Im Rahmen des entschuldigenden Notstands gemäß § 35 StGB ist ebenfalls eine (entschuldigende) Notstandshilfe möglich, allerdings ist hier der Kreis der betroffenen Personen, die zur Notstandshilfe berechtigen, stark eingeschränkt. Mehr dazu kannst du dir hier durchlesen.

II. Prüfungsstandort

Der rechtfertigende Notstand wird, wie alle Rechtfertigungsgründe, im Prüfungspunkt der Rechtswidrigkeit der Tat geprüft. Das Modul „Schema rechtfertigender Notstand“ ist dabei vollständig in die Prüfung des Delikts eingebunden. Kommt der rechtfertigende Notstand für mehrere zeitgleich begangene Delikte in Betracht, kann regelmäßig nicht pauschal auf eine einmalige Prüfung verwiesen werden, da die Rechtfertigung für jede einzelne Beeinträchtigung eines Rechtsguts gesondert geprüft werden muss. Das Schema des rechtfertigenden Notstands besteht aus den objektiven Rechtfertigungselementen der Notstandslage und der Notstandshandlung sowie dem subjektiven Rechtfertigungselement des Gefahrabwendungswillens.

Vernetztes Lernen

Was wir mit “modularem Arbeiten” meinen, kannst du dir hier durchlesen.

Web App FeatureUnsere Grafiken sind nur in der Web App verfügbar.
Platzhalter Grafik

III. Notstandslage

Als erste Voraussetzung muss eine objektive Notstandslage vorliegen. Die Notstandslage setzt eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut des Täters (Notständlers) oder eines Dritten voraus.

1. Rechtsgut

In § 34 S. 1 StGB sind mehrere Rechtsgüter aufgezählt (Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum). Diese Liste ist aber nur exemplarisch und nicht abschließend; tatsächlich sind alle Rechtsgüter, also jedes rechtlich anerkannte Interesse, notstandsfähig (”… oder ein anderes Rechtsgut”). Hierzu zählen im Unterschied zur Notwehr etwa auch Rechtsgüter der Allgemeinheit.

Vernetztes Lernen

Die Unterscheidung verschiedener Rechtsgüter wird vielmehr im Rahmen des § 35 StGB relevant. Der entschuldigende Notstand ist im Gegensatz zum hier behandelten rechtfertigenden Notstand nur bei einer Gefahr für die Rechtsgüter Leben, Leib oder Freiheit einschlägig. Mehr dazu kannst du dir hier durchlesen.

IV. Gegenwärtige Gefahr

Weiter muss eine Gefahr für das oben festgestellte Rechtsgut bestehen.

Definition

Eine Gefahr für das betroffene Rechtsgut liegt vor, wenn aus einer objektiven ex-ante Perspektive aufgrund tatsächlicher Umstände der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist.

Vernetztes Lernen

Hier liegt eine Parallele zum Polizei- und Ordnungsrecht. Auch hier muss der Schadenseintritt wahrscheinlich sein. Anders als im Polizeirecht aber führt eine Anscheinsgefahr nicht zum Vorliegen einer Gefahr im notstandsrechtlichen Sinne. Vielmehr entfällt der Vorsatzvorwurf in solchen Fällen wegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums.

Ähnlich wie bei der Notwehr muss die für das Rechtsgut festgestellte Gefahr auch gegenwärtig sein.

Definition

Eine Gefahr ist gegenwärtig, wenn die Bedrohungslage bei natürlicher Weiterentwicklung jederzeit in einen Schaden umschlagen kann.

Die Gegenwärtigkeit ist im Vergleich zur Notwehr deutlich weiter gefasst und umfasst auch die sogenannte Dauergefahr:

Beispiel

Alkoholiker A zeigte in der Vergangenheit nach dem Konsum von Wodka regelmäßig ein aggressives Verhalten und neigt dazu, seine Ehefrau E zu schlagen. Als A an einem Abend erneut eine große Menge Wodka konsumiert hat und deutlich aggressiv wirkt, sperrt E ihn in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer ein, um eine Eskalation zu verhindern. Sie lässt ihn erst wieder heraus, nachdem er ausgenüchtert ist.

Obwohl im obigen Beispiel zum Zeitpunkt des Einsperrens noch kein gegenwärtiger Angriff vorlag, bestand eine Dauergefahr, da nach objektiver ex-ante Perspektive jederzeit mit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung durch A zu rechnen war. Durch das Einsperren konnte E die Gefahr abwenden, sodass die Freiheitsberaubung nach § 34 StGB gerechtfertigt ist.

V. Notstandshandlung

Dem Wortlaut des § 34 StGB lassen sich alle Voraussetzungen der Notstandshandlung entnehmen. Sie muss erforderlich, verhältnismäßig und angemessen sein.

1. Erforderlichkeit

Die Gefahr darf “nicht anders abwendbar” sein, als durch die Eingriffshandlung (Tathandlung) des Täters. Das bedeutet, dass die Tat einerseits geeignet und andererseits das relativ mildeste Mittel sein muss.

Definition

Die Eingriffshandlung des Täters ist geeignet, wenn durch sie eine gewisse Rettungschance bestand. Sie ist das relativ mildeste Mittel, wenn keine anderen gleich geeigneten, aber in die Rechtsgüter weniger intensiv eingreifenden Mittel zur Verfügung standen.

Anders als bei der Notwehr sind hier keine besonderen Fallgruppen zu beachten. Vielmehr ist die Notstandshandlung immer dann nicht mehr erforderlich, wenn etwa ein Ausweichen oder obrigkeitliche Hilfe in Frage kommt. Anders als die Notwehr, dient der Notstand nicht dem Rechtsbewährungsinteresse (Recht braucht Unrecht nicht zu weichen) sondern unterliegt dem Prinzip der Güterabwägung (Abwehr eines schwereren Schadens auf Kosten eines geringeren Schadens).

2. Interessenabwägung

Regelmäßig bildet die im Wortlaut des § 34 S. 1 StGB angelegte Interessenabwägung der Schwerpunkt der Prüfung des Notstandes. Anders als bei der Notwehr, in deren Rahmen der Verteidigende keine Interessenabwägung vornehmen muss, kann die Notstandshandlung nur gerechtfertigt sein, wenn das Erhaltungsinteresse des Täters das Eingriffsgut (das durch die Handlung des Täters beeinträchtigte Interesse) wesentlich überwiegt. Die Abwägung sollte anhand folgender Kriterien vorgenommen werden:

Web App FeatureUnsere Grafiken sind nur in der Web App verfügbar.
Platzhalter Grafik

a) Rangverhältnis

Das Eingriffsgut darf nicht von evident höherem Rang sein als das Erhaltungsgut. Ist etwa das Eigentum des Notstständlers betroffen, greift er dafür aber in das Rechtsgut Leben eines anderen ein, geht die Interessenabwägung zu Lasten des Täters (Notständlers) aus.

Anhaltspunkt und Argument hierfür sind regelmäßig die Strafrahmen der Strafnormen, die die jeweiligen betroffen Rechtsgüter schützen sollen (§ 303 vs. § 212 StGB).

b) Grad der Gefahr

Ebenso kann der Grad der Gefahr ein Anhaltspunkt für ein überragendes Interesse einer Seite ein. Handelt es sich bei den jeweils vorliegenden Gefahren für die betroffenen Rechtsgüter (Erhaltungsgut und Eingriffsgut) und abstrakte oder konkrete Gefahren?

Merke

  • Abstrakte Gefahr: Liegt vor, wenn eine Handlung typischerweise geeignet ist, ein Rechtsgut zu gefährden, ohne dass eine unmittelbare Gefährdung vorliegt. Beispiel: Alkoholisiertes Autofahren.

  • Konkrete Gefahr: Entsteht, wenn ein Schaden für ein Rechtsgut derart unmittelbar bevorsteht, dass der Schadenseintritt in der konkreten Situation nicht mehr in der Kontrolle des Täters liegt; der Eintritt des Schadens also vom Zufall abhängt. Beispiel: Beinahe-Unfall im Rahmen des § 315c StGB.

Handelt es sich etwa sowohl beim Erhaltungs- als auch beim Eingriffgut um das Rechtsgut Eigentum, ist das Erhaltungsgut aber nur abstrakt bedroht, während das Eingriffsgut durch die Eingriffshandlung des Täters konkret verletzt wird, könnte dies ebenfalls ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die Interessenabwägung zulasten des Täters (Notständlers) geht.

c) Umfang des Schadens

Zuletzt kann selbstverständlich auch der Umfang der eintretenden Schäden Kriterium der Interessenabwägung sein.

Handelt es sich etwa sowohl beim Erhaltungsgut als auch beim Eingriffsgut um Rechtsgüter gleichen Ranges (z. B. Eigentum) und ist das Erhaltungsgut ganz konkret bedroht (es ist dem Zufall überlassen, ob der Schaden nun eintritt oder nicht), handelt es sich aber bei dem Erhaltungsgut um ein Skateboard, und beim Eingriffsgut um einen teuren Neuwagen, so wird die Interessenabwägung ebenfalls zulasten des Täters (Notständlers) ausgehen.

Grundsätzlich sind natürlich alle möglichen Bewertungsgrundlagen in die Interessenabwägung einzubeziehen und diese in der konkreten Lebenssituation zu beleuchten und abzuwägen. Zu beachten ist dabei auch der Gedanke des § 228 BGB, der den Aggressivnotstand regelt. Grundsätzlich sind qualitativ und quantitativ weitergehende Beeinträchtigungen der Rechtsgüter erlaubt, wenn es sich beim Eingriffsgut um ein Rechtsgut desjenigen handelt, der die Gefahr für das Erhaltungsgut hervorruft (= der den Notstand auslöst). Weniger intensiv darf die Beeinträchtigung im Umkehrschluss bei einem Defensivnotstand sein, sich die Eingriffshandlung also nicht gegen denjenigen richtet, der die Notstandslage hervorruft.

3. Angemessenheit

Zuletzt ist dem § 34 S. 2 StGB noch das Angemessenheitserfordernis zu entnehmen. Die systematischen Stellung des Angemessenheitserfordernis in einem gesonderten Satz 2 zeigt, dass der Gesetzgeber hier eine über die Interessenabwägung hinausgehende Anforderung an die Notstandshandlung stellt. Trotz Überwiegen des Erhaltungsinteresses des Täter (Notständlers) kann die Notstandshandlung wegen der Verletzung wichtigster rechts- oder sozialethischer Schranken unangemessen sein.

Web App FeatureUnsere Grafiken sind nur in der Web App verfügbar.
Platzhalter Grafik

a) Generelle Abwägungsverbote

Abwägungsverbote, die sich direkt aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 I GG) ableiten lassen, führen stets zu einer Unangemessenheit der Notstandshandlung.

Hierzu gehören:

  • Abwägung von Leben gegen Leben Die Tötung weniger zur Rettung vieler ist im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes niemals angemessen. Hier kommt lediglich der übergesetzliche Notstand ins Spiel.

  • Medizinische Zwangsbehandlung Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht über die eigene körperliche Integrität können ebenfalls niemals angemessen im Sinne des § 34 S. 2 StGB sein.

  • Staatliche Folter zur Gefahrenabwehr Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ergibt sich zudem, dass staatliche Folter zur Gefahrenabwehr niemals eine angemessene Notstandshandlung darstellen kann.

b) Sonstige oberste Rechtsprinzipien

Wenn die Rechtsordnung für die Lösung bestimmter Konflikte spezielle Verfahren oder Institutionen vorsieht, ist eine eigenmächtige Gefahrenabwehr durch Privatpersonen, selbst wenn sie das einzige Mittel zur Abwendung der Gefahr sein sollte, nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt. In solchen Fällen stehen grundlegende Prinzipien der Rechtsordnung auf dem Spiel, die eine Unterordnung des Einzelnen unter das Recht erfordern. Eine Notstandshandlung, die die obersten Rechtsprinzipien in Frage stellt, sollte sie dem Täter erlaubt werden, kann also ebenfalls niemals angemessen im Sinne des § 34 StGB sein.

Beispiel

T hat den O vorsätzlich getötet. Die einzigen belastbaren Beweise für diese Tat lagern im Keller des Hauses von T. Als die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu T führen, plant dieser, die Beweise umgehend zu vernichten. Freund F des T erfährt eines Abends, als T stark alkoholisiert ist, von der Tat, den Beweisen und dem Plan zur Beweisvernichtung. Daraufhin bricht F noch am selben Abend in das Haus des T ein und stiehlt die Beweise, um sie der Polizei zu übergeben.

Im obigen Fall könnte der Diebstahl zunächst gerechtfertigt erscheinen, da das Allgemeinwohl an der Aufklärung eines schweren Verbrechens schwerer wiegt als das Rechtsgut Eigentum des T an den Beweismitteln. Allerdings weist die Rechtsordnung die Durchsetzung der Strafverfolgung und die Sicherstellung von Beweismitteln ausdrücklich der Staatsanwaltschaft und den Strafverfolgungsbehörden zu. Hierfür existiert ein gesetzlich geregeltes Verfahren, das von den zuständigen Institutionen durchgeführt wird. Die eigenmächtige Handlung des F unterläuft dieses Verfahren und widerspricht den grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung, sodass die Eingriffshandlung nicht angemessen und der Diebstahl nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt ist.

aa) Nötigungsnotstand

Ein in Examensklausuren beliebter Fall ist der sogenannte Nötigungsnotstand. Dieser liegt vor, wenn ein Dritter den Täter durch Androhung einer Gefahr für Leib oder Leben für diesen oder eine andere Person gezwungen wird, einen Straftatbestand zu verwirklichen. In solchen Fällen ist zu prüfen, ob die erzwungene Eingriffshandlung angemessen und der Täter nach § 34 StGB gerechtfertigt sein kann, oder ob sie gegen oberste Rechtsprinzipien verstößt.

Beispiel

A zwingt B unter Androhung schwerster Körperverletzungen gegenüber dessen Tochter T, den C zu berauben, um an den Schlüssel zu dessen Bankschließfach zu gelangen.

Problem

Angemessenheit der Nötigungsnotstandshandlung

  1. Generelle Rechtfertigungslösung Die generelle Rechtfertigungslösung vertritt die Ansicht, dass die Nötigungsnotstandshandlung generell angemessen sei, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen. Für den Täter (Notständler) sei es grundsätzlich gleichgültig, worin die drohende Gefahr ihren Ursprung habe. Entscheiden sei nur, dass das Erhaltungsinteresse des Täters (Notständlers) das Eingriffsgut wesentlich überwiege.

  2. Eingeschränkte Rechtfertigungslösung Die eingeschränkte Rechtfertigungslösung sieht die Nötigungsnotstandshandlung des Täters (Notständlers) nur dann als angemessen an, wenn dem Notständler eine akute Lebens- oder Gesundheitsgefahr drohe, er aber andererseits nur zu einer geringfügigen Rechtsverletzung veranlasst wird.

  3. Entschuldigungslösung (h.M.) Die Entschuldigungslösung sieht eine Nötigungsnotstandshandlung nie als angemessen und damit gerechtfertigt an. Es verstieße gegen oberste Rechtsprinzipien und würde das Vertrauen in die Rechtsordnung zutiefst erschüttern, wenn der durch die Nötigungsnotstandshandlung Angegriffene auf seine Abwehrrechte verzichten müsste, weil der Angriff (Nötigungsnotstandshandlung) gerechtfertigt - also rechtmäßig - wäre. Vielmehr könne die Handlung durch § 35 StGB entschuldigt sein.

  4. Stellungnahme Die überzeugendste Lösung ist die Entschuldigungslösung. Sie bewahrt die grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung, indem die Tat objektiv rechtswidrig bleibt und keine Relativierung der geschützten Rechtsgüter erfolgt. Gleichzeitig wird die besondere Zwangslage des Täters berücksichtigt, indem dieser strafrechtlich entschuldigt wird. Diese Lösung wahrt das Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Rechtsordnung und der Berücksichtigung der individuellen Notsituation des Täters.

Für obiges Beispiel bedeutet das:

  • Nach der generellen Rechtfertigungslösung wäre die Nötigungsnotstandshandlung (Raub) des B angemessen im Sinne des § 34 S. 2 StGB und damit gerechtfertigt.

  • Nach der eingeschränkten Rechtfertigungslösung wäre die Nötigungsnotstandshandlung (Raub) wohl nicht angemessen im Sinne des § 34 S. 2 StGB und damit gerechtfertigt, da sie nicht zu einer nur geringfügigen Rechtsverletzung des C führt.

  • Nach der Entschuldigungslösung wäre die Nötigungsnotstandshandlung (Raub) des B nicht wegen Verstoßes gegen oberste Rechtsprinzipien nicht angemessen und damit gerechtfertigt. Vielmehr kommt nur der Schuldausschließungsgrund des § 35 StGB in Frage.

c) Besondere Duldungspflichten des Täters

Zuletzt können noch besondere Duldungspflichten des Täters die Angemessenheit ausschließen.

aa) Kein Notstand gegen Notwehr

Eine Angemessenheit scheitert immer dann, wenn die Rechtsgutsbeeinträchtigung des Täters (Notständlers) eine vom Gesetzgeber in Kauf genommene gesetzliche Folge einer anderen gesetzlichen Regelung ist.

So ist es ähnlich dem Grundsatz “Keine Notwehr gegen Notwehr” nicht angemessen, wenn sich die Notstandshandlung gegen eine durch Notwehr gerechtfertigte Verteidigungshandlung richtet.

bb) Besondere Rechtsstellung

Ebenfalls sind solche Notstandshandlungen unangemessen, die auf einer (drohenden) Rechtsgutsbeeinträchtigung beruhen, die kraft besonderer Rechtsstellung des Täters (Notständlers) - etwa seinen Beruf (Soldat, Feuerwehrmann, Polizist) - geduldet werden müssen, weil er bestimmte Gefahren auf sich zu nehmen hat.

Beispiel

Ein Feuerwehrmann weigert sich, trotz überschaubarem Risiko ein brennendes Gebäude zu betreten, um eine eingeschlossene Person zu retten, und beruft sich auf § 34 StGB, da er sein eigenes Leben schützen möchte.

cc) Verschulden der Notstandslage

Zuletzt können noch solche Notstandshandlungen unangemessen sein, die darauf beruhen, dass der Täter (Notständler) die Notstandslage aus eigenem Verschulden hervorruft. Hier ist zwischen einer absichtlich herbeigeführten Notstandslage und einer anderweitig provozierten Notstandslage zu unterscheiden.

  • Bei absichtlich herbeigeführten Notstandslagen wird mit einem Erst-Recht-Schluss auf die Notwehr verwiesen. Wenn schon das deutlich schärfere Notwehrrecht vollständig entfällt, wenn die Notwehrlage wie im Rahmen der Absichtsprovokation absichtlich herbeigeführt oder provoziert wird, muss das erst recht für das schwächere Notstandsrecht gelten. Eine Notstandshandlung, die auf einer absichtlich herbeigeführten Notstandslage beruht, kann nicht angemessen und damit gerechtfertigt sein.

  • In den Fällen, in denen der Täter die Notstandslage zwar nicht absichtlich, aber sonst schuldhaft herbeigeführt oder provoziert hat, sind an den Täter (Notständler) ähnlich der Notwehrprovokation höhere Duldungspflichten hinsichtlich der eigenen Rechtsgutsbeeinträchtigung zu stellen. Die erhöhten Duldungspflichten müssen im Rahmen der Angemessenheit argumentativ aufgearbeitet und in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.

VI. Gefahrabwendungswille

Damit der Täter (Notständler) letztlich durch § 34 StGB gerechtfertigt ist, muss noch das subjektive Rechtfertigungselement in Form des Gefahrabwendungswillens vorliegen.

Allerdings wird unterschiedlich beurteilt, welche Qualität das subjektive Rechtfertigungselement im Rahmen des Notstandes gemäß § 34 StGB aufweisen muss.

Vernetztes Lernen

Folgende Problematik stellt sich in ganz ähnlicher Form auch im Rahmen des Notwehrwillens. Es lohnt ein Vergleich mit dem Artikel zur Notwehr, um sich hier das Wissen vernetzt anzueignen.

Problem

Qualität des Gefahrabwendungswillens

  • Eine Meinung setzt lediglich voraus, dass der Notständler in sicherer Kenntnis der Notstandslage handelt.

  • Eine andere Meinung hingegen setzt eine Gefahrabwendungsabsicht voraus. Der Notständler muss also handeln, um die Gefahr für das Rechtsgut abzuwehren. Es muss ihm also gerade auf die Abwendung der Gefahr ankommen.

Je nachdem, wie man diesen Streit entscheidet, kann es zu Folgeproblematiken kommen. Handelt der Notständler ohne Gefahrabwendungswillen, entscheidet man sich aber für die zweite Meinung, fehlt dem Notständler folglich das subjektive Rechtfertigungselement. In der Folge ist dann der Streit zu führen, welche Konsequenz aus dem fehlenden subjektiven Rechtfertigungselement (= Gefahrabwendungswille) zu ziehen ist. Im Rahmen dieser Frage werden unterschiedliche Auffassungen vertreten, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Prüfung haben. Hier sollte sorgfältig abgewogen und klausurtaktisch entschieden werden.

Problem

Rechtsfolge bei fehlendem subjektivem Rechtfertigungselement

  • Eine Mindermeinung argumentiert, dass subjektive und objektive Rechtfertigungselemente gleichwertig seien. Fehlt ein Rechtfertigungselement, scheitere die Rechtfertigung und der Täter sei aus vollendetem Delikt zu bestrafen.

  • Die herrschende Meinung hingegen differenziert zwischen Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht.

    • Fehlt ein objektives Rechtfertigungselement, stehe der Taterfolg der Verteidigungshandlung im objektiven Widerspruch zur Rechtsordnung (Erfolgsunrecht), sodass die Rechtfertigungsprüfung scheitere und aus vollendetem Delikt zu bestrafen sei.

    • Fehlt hingegen ein subjektives Rechtfertigungselement, stehe der Taterfolg im Einklang mit der Rechtsordnung, lediglich die Notstandshandlung sei dem Notständler vorwerfbar (Handlungsunrecht). Bei einer Vorsatztat müsse dann wegen Versuchs bestraft werden.

Flag
Flag
Background lines

Bereit, Jura digital zu lernen?

Mach dir dein eigenes Bild unseres Digitalen Compagnons und erlebe, mit wie viel Freude man Jura im Jahr 2025 lernen kann.

Kostenlos ausprobieren

Ohne Zahlungsdaten