Dieser Artikel beschäftigt sich mit der mutmaßlichen Einwilligung, die im Strafrecht eine zentrale Rolle spielt, wenn es um die Rechtfertigung von Eingriffen in Individualrechtsgüter geht. Anders als bei der Notwehr oder dem rechtfertigenden Notstand wird eine Straftat hier nicht durch eine Zwangslage oder eine Gefahrensituation gerechtfertigt, sondern durch die hypothetische Zustimmung des Rechtsgutsträgers, weil der Eingriff im wohlverstandenen Interesse des Rechtsgutsträgers liegt. Wie die rechtfertigende Einwilligung basiert auch die mutmaßliche Einwilligung auf dem Grundsatz der Privatautonomie. Dieser Grundsatz leitet sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes ab und betont das Recht des Einzelnen, eigenverantwortlich über seine Rechtsgüter zu verfügen.
Auch wenn die mutmaßliche Einwilligung für ärztliche Heileingriffe in § 630d I 4 BGB ausdrücklich geregelt worden ist, heißt das nicht, dass eine mutmaßliche Einwilligung nur bei ärztlichen Heileingriffen (also Eingriffen in die körperliche Integrität) in Betracht kommt. Vielmehr ist eine mutmaßliche Einwilligung bei allen zur Disposition stehenden Individualrechtsgütern denkbar (Eigentum → Sachbeschädigung § 303 StGB).
Der Tatbestand der mutmaßlichen Einwilligung ist gesetzlich nicht geregelt, womit ihr eine hohe Examensrelevanz zukommt. Aufgrund inhaltlicher Überschneidungen wird empfohlen, den Artikel zur rechtfertigenden Einwilligung parallel zu bearbeiten.
I. Prüfungsstandort
Die mutmaßliche Einwilligung wird, wie alle Rechtfertigungsgründe, im Prüfungspunkt der Rechtswidrigkeit der Tat geprüft. Das Modul „Schema mutmaßliche Einwilligung“ ist dabei vollständig in die Prüfung des Delikts eingebunden. Kommt die mutmaßliche Einwilligung für mehrere zeitgleich begangene Delikte in Betracht, kann regelmäßig nicht pauschal auf eine einmalige Prüfung verwiesen werden, da die Rechtfertigung für jede einzelne Beeinträchtigung eines Rechtsguts gesondert geprüft werden muss. Das Schema der mutmaßlichen Einwilligung besteht aus den objektiven Rechtfertigungselementen der mutmaßlichen Einwilligungserklärung und dessen Wirksamkeit sowie dem subjektiven Rechtfertigungselement.
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Was wir mit modularem Arbeiten im Strafrecht meinen, kannst du dir hier durchlesen.

II. Abgrenzung: Mutmaßliche Einwilligung und hypothetische Einwilligung
Die mutmaßliche Einwilligung ist nicht mit der hypothetischen Einwilligung zu verwechseln! Die hypothetische Einwilligung wird im Rahmen der rechtfertigenden Einwilligung behandelt und dient als Rückausnahme zu den Willensmängeln durch fehlerhafte ärztliche Aufklärung. Während die mutmaßliche Einwilligung den Zweck verfolgt, eine fehlende Einwilligungserklärung des Rechtsgutsträgers in seinem Interesse zu überwinden, muss bei der hypothetischen Einwilligung eine Einwilligungserklärung vorliegen. Durch die hypothetische Einwilligung wird lediglich die Wirksamkeit der Einwilligung sichergestellt, wenn der Patient im Nachhinein von der fehlerhaften Aufklärung erfährt, dem Eingriff aber trotzdem zugestimmt hätte.
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Die hypothetische Einwilligung kannst du dir hier durchlesen.

III. Disponibilität des betroffenen Rechtsguts
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Hinsichtlich der Prüfung dieses Prüfungspunktes wird auf den Artikel zur rechtfertigenden Einwilligung verwiesen. Es ergeben sich keine Besonderheiten. Dort Erläutertes gilt entsprechend auch für die mutmaßliche Einwilligung.
IV. Mutmaßliche Einwilligungserklärung
Auch im Rahmen der mutmaßlichen Einwilligung bestehen Parallelen zur rechtfertigenden Einwilligung. Allerdings muss hier beachtet werden, dass keine Deckungsgleichheit der Schemata vorliegt. So setzt der Prüfungspunkt der mutmaßlichen Einwilligungserklärung keine tatsächlich vorliegende Erklärung voraus, sondern deren Mutmaßlichkeit.
1. Dispositionsberechtigung
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Hinsichtlich des Prüfungspunktes der Dispositionsberechtigung ergeben sich keine Besonderheiten. Der mutmaßlich Erklärende muss genau wie bei der rechtfertigenden Einwilligung dispositionsfähig sein, sodass die Erläuterung im Rahmen der rechtfertigenden Einwilligung entsprechend auch für die mutmaßliche Einwilligung gelten.
Allerdings muss die Bezugsperson klar festgestellt werden:
Beispiel
Kleinkind A wird bei einem Kindergartenspaziergang von einem Auto angefahren. Das Kind kommt ins Krankenhaus und muss mittels eines ärztlichen Heileingriffs behandelt werden. Das Kleinkind ist ansprechbar, die Mutter bzw. gesetzliche Vertreter sind nicht anwesend.
Im obigen Beispiel muss hinsichtlich der mutmaßlichen Einwilligungserklärung wegen der Einwilligungsunfähigkeit des A auf den mutmaßlichen Willen der Mutter abgestellt werden, sodass deren Dispositionsberechtigung festgestellt werden muss.
2. Mutmaßlichkeit
Wegen der fehlenden erklärten (ausdrücklichen) Einwilligung des Dispositionsbefugten ergeben sich im Rahmen der Mutmaßlichkeit wesentliche Unterschiede zur rechtfertigenden Einwilligung.
Mutmaßlichkeit kann nur dann angenommen werden, wenn die Subsidiarität beachtet wurde, sowie eine Übereinstimmung mit dem mutmaßlichen Willen vorliegt.
a) Subsidiarität
Die mutmaßliche Einwilligung ist stets subsidiär gegenüber einem entgegenstehenden Willen des Rechtsgutsinhabers - soweit sich diese entgegenstehen. Zudem ist im Rahmen der Subsidiarität zu beachten, dass das Abwarten seiner Entscheidung grundsätzlich unzumutbar sein muss.
aa) Entgegenstehender Wille
Insofern ein erkennbar entgegenstehender Wille des Rechtsgutsträgers bzw. Dispositionsbefugten vorliegt, ist immer zu beachten, mag er objektiv auch noch so unvernünftig sein. Das Selbstbestimmungsrecht hat hier Vorrang.
Beispiel
B ist Mitglied der Sekte “Zeugen Jehovas”. Mitgliedern dieser Sekte ist es aus religiösen Gründen unter allen Umständen untersagt, eine Bluttransfusion zu erhalten, weil “sündhaftes Blut” nicht in den eigenen Körper gelangen dürfe. Alle Mitglieder in der Sekte haben einen “Ausweis” im Portemonnaie, der eine entsprechende unterschriebene Willenserklärung aufweist. Als B in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt wird, kommt er lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus. B wird versterben, wenn er nicht sofort eine Bluttransfusion erhält. Arzt A wird auf den “Ausweis” hingewiesen und von mehreren Mitgliedern der Sekte über die Einstellung des B aufgeklärt. A setzt sich darüber hinweg und gibt B eine Bluttransfusion mittels Transfusionsnadel. Strafbarkeit des A nach §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB?
In obigem Beispiel ist die mutmaßliche Einwilligung subsidiär gegenüber dem tatsächlich entgegenstehenden Willen des B. Dieser ist erkennbar nach außen getreten, weshalb sich A nicht auf eine mutmaßliche Einwilligung berufen kann. A ist strafbar wegen §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB.
bb) Grundsatz: Befragung des Rechtsgutsträgers
Des Weiteren muss der Rechtsgutsträger grundsätzlich zunächst befragt werden. Insofern eine vorherige Befragung zumutbar ist, kann sie nicht durch die mutmaßliche Einwilligung ersetzt werden. In keinem Fall darf das Selbstbestimmungsrecht des Rechtsgutsträgers durch einen vorschnellen Rückgriff auf die mutmaßliche Einwilligung überlagert werden.
Definition
Eine vorherige Befragung des Rechtsgutsträgers ist unzumutbar, wenn aus einer ex-ante Perspektive sofortiges Handeln geboten ist, weil die Untätigkeit bis zur Befragungsmöglichkeit den Interessen des Rechtsgutsträgers mehr schaden als nützen würde.
Typisches Beispiel für die Fallgruppe der Befragung des Rechtsgutsträgers sind die sogenannten Operationserweiterungs-Fälle:
Beispiel
Patient P hat wirksam in eine Bandscheiben-OP eingewilligt. Während der OP fällt den Ärzten ein Tumor an einer anderen Stelle der Wirbelsäule auf. Die Entfernung dieses Tumors ist mit weiteren eigenen Risiken verbunden und ist nicht von unmittelbarer zeitlicher Relevanz. P kann wegen der Narkotisierung nicht mehr befragt werden. Die Ärzte A und B entscheiden sich “aus gesundem Menschenverstand” den Tumor “in einem Rutsch” gleich mitzuentfernen. Trotz kunstgerechter Durchführung der Entfernung des Tumors kommt es zu Komplikationen, infolge der P dauerhaft im linken Bein gelähmt ist. Strafbarkeit der Ärzte nach §§ 223 I, 226 I Nr. 2 StGB?
Im obigen Beispiel liegt zwar ein kunstgerechter Eingriff vor, allerdings könnte es an einer Einwilligung hinsichtlich der OP-Erweiterung fehlen.
Mangels ausdrücklicher Erklärung kommt nur eine mutmaßliche Einwilligung in Betracht. Dafür dürfte die Mutmaßlichkeit nicht subsidiär sein.
Ein erkennbar entgegenstehender Wille liegt zwar nicht vor, allerdings könnte eine vorherige Befragung zumutbar gewesen sein. Das ist der Fall, wenn sofortiges Handeln geboten war, weil ein Zuwarten der Befragung des P seinen Interessen mehr geschadet als genützt hätte.
Dagegen spricht aber, dass die Tumorentfernung mit eigenen relevanten Risiken verbunden war, über deren Eingehung der P selbst hätte entscheiden müssen. Zudem war kein sofortiges Handeln erforderlich, weil die Tumorentfernung nicht von unmittelbarer zeitlicher Relevanz war.
Eine mutmaßliche Einwilligung kann wegen der Subsidiarität der Mutmaßlichkeit nicht angenommen werden. Die Ärzte A und B sind wegen schwerer Körperverletzung in Mittäterschaft gemäß §§ 223 I, 226 I Nr. 2, 25 II StGB strafbar.
cc) Ausnahme: Mangelndes Interesse des Rechtsgutsinhabers
Eine Ausnahme vom Grundsatz der Subsidiarität gegenüber der vorherigen Befragungsmöglichkeit besteht bei der Entbehrlichkeit wegen mangelnden Interesses seitens des Rechtsgutsträgers. Diese liegt vor, wenn der Rechtsgutsinhaber kein Interesse am Schutz des Rechtsguts hat.
Beispiel
Wanderer W kommt an einer frei zugänglichen Apfelbaumwiese vorbei und nimmt sich als kleinen “Wanderersnack” einen Apfel von dem reichlich vorhandenen Fallobst mit.
In obigem Beispiel kann eine mutmaßliche Einwilligung trotz vorheriger Befragungsmöglichkeit angenommen werden, da nichts auf ein Interesse des Rechtsgutsinhabers am Schutz seines Rechtsguts “Eigentum” hinsichtlich des Fallobstes hinweist.
Eine Rückausnahme bildet aber ein entgegenstehender erklärte Wille. Über einen ausdrücklich erklärten Willen darf sich auch nicht bei mangelndem Interesse hinweggesetzt werden:
Beispiel
Wanderer W kommt an einer umzäunten Apfelbaumwiese vorbei. Am Zaun hängt ein Schild mit der Aufschrift “Apfeldiebe werden mit Anzeige bestraft. Der Eigentümer!”. Trotzdem nimmt W sich einen am Boden liegenden Apfel als kleinen “Wanderersnack” mit.
Im obigen Beispiel ist der Wille (trotz strafrechtlicher Laienkenntnisse) klar erkennbar. Auch ein mangelndes Interesse an einem Fallobst-Apfel kann den erklärten Willen nicht außer Kraft setzen. A ist nach Strafanzeige des Eigentümers wegen § 242 I StGB strafbar.
b) Übereinstimmung mit dem mutmaßlichen Willen
Im Rahmen der Prüfung der Mutmaßlichkeit muss darüber hinaus der mutmaßliche Wille des Rechtsgutsinhabers ermittelt und eine Übereinstimmung festgestellt werden. Kriterien zur Bestimmung des mutmaßlichen Willens lassen sich dabei in subjektive und objektive Kriterien unterteilen, wobei subjektive Kriterien stets vorrangig sind. Der mutmaßliche Wille ist dabei aus der ex-ante Perspektive zu beurteilen, also dem Zeitpunkt des Eingriffs.
aa) Subjektive Kriterien
Definition
Subjektive Kriterien sind die persönlichen Umstände, individuelle Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Wertevorstellungen.
Subjektive Kriterien sind von entscheidender Bedeutung und gegenüber objektiven Kriterien stets vorrangig! Für die Ermittlung des Willens sind auch Aussagen von Freunden oder Familienmitgliedern relevant, die etwa einen Schluss auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse zulassen.
Ebenso ist zu beachten, wenn der Rechtsgutsträger sich bereits im Vorhinein mit der eingetretenen Situation befasst und Standpunkte klargemacht hat.
bb) Objektive Kriterien
Definition
Objektiv sind solche Kriterien, die abgrenzen, ob der Eingriff allgemein hin als vernünftig angesehen wird oder den Interessen eines verständigen Betroffenen typischerweise entspricht.
Objektive Kriterien sind den subjektiven Kriterien nachrangig und haben keine eigenständige Bedeutung. Sie dienen viel mehr als Indizien für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens.
Merke
Liegen jedoch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Rechtsgutsinhaber anders entschieden hätte, darf davon ausgegangen werden, dass sein hypothetischer Wille mit dem übereinstimmt, was gemeinhin als normal oder vernünftig angesehen wird.
V. Wirksamkeit
Hinsichtlich der Wirksamkeit der mutmaßlichen Einwilligung kann erneut eine Parallele zur rechtfertigenden Einwilligung gezogen werden. Derjenige, auf dessen Willen angestellt wird, muss einwilligungsfähig sein.
Kinder unter 14 Jahren oder Geisteskranke sind in der Regel mangels hinreichender Urteils- und Einsichtsfähigkeit nicht einwilligungsfähig, sodass nicht auf ihren mutmaßlichen Willen abgestellt werden darf. Vielmehr muss dann im Zweifel auf den mutmaßlichen Willen des Dispositionsbefugten (gesetzlicher Vertreter) abgestellt werden.
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Die Wirksamkeit im Rahmen der rechtfertigenden Einwilligung kannst du dir hier durchlesen.
VI. Subjektives Rechtfertigungselement
Damit der Täter letztlich durch eine mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt ist, muss noch das subjektive Rechtfertigungselement vorliegen.
Definition
Das subjektive Rechtfertigungselement im Rahmen der mutmaßlichen Einwilligung setzt voraus, dass der Täter
in sicherer Kenntnis der rechtfertigenden Umstände handelt und
die Absicht hat, entsprechend dem Willen des Dispositionsbefugten zu handeln (Handeln, um den ermittelten mutmaßlichen Willen umzusetzen!).
Handelt der Täter nicht aufgrund des ermittelten mutmaßlichen Willens der Einwilligungsberechtigten, fehlt ihm das subjektive Rechtfertigungselement.
1. Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements
Im Rahmen der Frage, wie das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements zu bewerten ist, werden unterschiedliche Auffassungen vertreten, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Prüfung haben. Hier sollte sich sorgfältig entschieden werden.
Problem
Rechtsfolge bei fehlendem subjektivem Rechtfertigungselement
Eine Mindermeinung argumentiert, dass subjektive und objektive Rechtfertigungselemente gleichwertig seien. Fehlt ein Rechtfertigungselement, scheitere die Rechtfertigung und der Täter sei aus vollendetem Delikt zu bestrafen.
Die herrschende Meinung hingegen differenziert zwischen Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht.
Fehlt ein objektives Rechtfertigungselement, stehe der Taterfolg der Eingriffshandlung im objektiven Widerspruch zur Rechtsordnung (Erfolgsunrecht), sodass die Rechtfertigungsprüfung scheitere und aus vollendetem Delikt zu bestrafen sei.
Fehlt hingegen ein subjektives Rechtfertigungselement, stehe der Taterfolg im Einklang mit der Rechtsordnung, lediglich die Eingriffshandlung sei dem Eingreifenden (Täter) vorwerfbar (Handlungsunrecht). Bei einer Vorsatztat müsse dann wegen Versuchs bestraft werden.