I. Einleitung
Von einer gestörten Gesamtschuld spricht man, wenn einer der Gesamtschuldner privilegiert haftet und dadurch der Ausgleich unter den Gesamtschuldnern gestört wird. Die Haftungsbeschränkung kann sich aus vertraglicher Vereinbarung oder Gesetz ergeben.
II. Haftungsprivilegierung
1. Vertragliche Haftungsprivilegierung
Vertraglich kommt insbesondere die Vereinbarung eines Haftungsausschlusses in Betracht.
Auch Haftungsbeschränkungen, beispielsweise durch das Modifizieren der Verschuldensanforderungen, sind denkbar.
Beispiel
Schädiger S nimmt Gläubiger G in seinem Auto mit. Zuvor vereinbaren sie einen Haftungsausschluss, in dem die Haftung des S für leichte Fahrlässigkeit wirksam ausgeschlossen wird.
2. Gesetzliche Haftungsprivilegierung
Gesetzliche Haftungsausschlüsse können sich bei Arbeits- und Dienstunfällen sowie im Zusammenhang mit den Grundsätzen der Arbeitnehmerhaftung ergeben. Hier sollte man die Haftungsausschlüsse der §§ 104 ff. SGB VII und das Institut des innerbetrieblichen Schadensausgleichs kennen.
Gesetzliche Haftungsbeschränkungen sind unter anderem in den §§ 300 I, 690, 708, 839 II, 1359, 1664 I BGB für Schuldner während des Gläubigerverzuges, Verwahrer, Gesellschafter, Beamte, Eheleute und Eltern geregelt.
3. Regressmodalitäten
Die verschiedenen Regressmöglichkeiten im Zusammenhang mit der gestörten Gesamtschuld sollen am folgenden Beispielsfall verdeutlicht werden:
Beispiel
Schädiger 1 nimmt Gläubiger G in seinem Auto mit. Zuvor vereinbaren sie einen Haftungsausschluss des S1. Als Schädiger 1 und Schädiger 2 gleichermaßen einen Unfall verschulden, entsteht G ein Schaden von 1.000 Euro.
Die vereinbarte Haftungsbeschränkung wirkt sich zunächst nur im Innenverhältnis aus. Der Geschädigte kann aufgrund der Vereinbarung mit S1 diesen nicht in Anspruch nehmen. Gleichwohl ist ihm ein Schaden entstanden, den er von S2 und möglichst in voller Höhe ersetzt verlangen möchte. Auf welche Weise dies möglich ist, ist vor dem Hintergrund der Folgen für das Verhältnis der Gesamtschuldner zueinander umstritten.
1. Ansatz:
Der Geschädigte kann den nicht privilegierten Gesamtschuldner (S2) in Anspruch nehmen. Dieser hat aber keinen Regressanspruch aus §§ 426 I und 426 II BGB gegen den privilegierten Gesamtschuldner (S1).
Begründet wird das damit, dass der S1 wegen der Privilegierung nicht haftet. Es bestehe daher gar kein Gesamtschuldverhältnis.
Gegen diese Ansicht spricht jedoch, dass das Privileg zu Lasten eines unbeteiligten Dritten (S2) wirkt, also wie ein Vertrag zu Lasten Dritter.
2. Ansatz:
Der Geschädigte kann den nicht privilegierten Gesamtschuldner (S2) in Anspruch nehmen, dieser hat jedoch im Innenverhältnis einen Ausgleichsanspruch gegen den privilegierten Schuldner (S1), sogenannte fingierte Gesamtschuld. Der Ausgleichsanspruch im Innenverhältnis lässt sich auf eine analoge Anwendung des § 426 I BGB bzw. eine analoge Anwendung von § 426 II BGB i.V.m. §§ 280 I, 241 II BGB stützen. Teilweise wird vertreten, dass der privilegierte Schuldner beim Geschädigten Regress für diesen geleisteten Ausgleich nehmen kann.
Dafür spricht, dass auf diese Weise die Haftungsprivilegierung zumindest im Verhältnis zum Geschädigten gilt.
Dagegen spricht allerdings, dass über die Haftung im Innenverhältnis das Haftungsprivileg letztlich entwertet wird. Durch den möglichen Regress beim Geschädigten entsteht ein Regresskreisel, der zu komplizierten Regressfragen führt.
3. Ansatz:
Herrschend wird daher vertreten, dass der Anspruch des Geschädigten gegen S2 von vornherein um den fiktiven Anteil des privilegierten Schuldners gekürzt wird.
Diese Auffassung ist interessengerecht. Der haftungsprivilegierte Schuldner ist weder im Außenverhältnis zum Geschädigten noch im Innenverhältnis zum nicht privilegierten Schuldner zum Ersatz verpflichtet. Aufgrund der Vereinbarung mit S1 muss sich der Geschädigte diesen Haftungsausschluss auch entgegenhalten lassen können und nicht durch Zufall „mehr“ bekommen, als ihm im Verhältnis zum S1 zustehen würde. S2 wird ferner nicht zufällig dadurch belastet, dass der zweite Schädiger privilegiert haftet.

4. Exkurs
a) Haftungsbeschränkungen und Dritte
Haftungsbeschränkungen erstrecken sich auch auf Dritte, soweit dem privilegiert Haftenden sonst der Rückgriff des Dritten droht.
Beispiel
Ein Mitarbeiter des S hat den G leicht fahrlässig geschädigt. Die Haftung des S war ausgeschlossen. Würde der Mitarbeiter haften, könnte er nach den arbeitsrechtlichen Regeln über den innerbetrieblichen Schadensausgleich bei seinem Arbeitgeber (S) Rückgriff nehmen. In der Folge wäre das Haftungsprivileg des S wertlos.
b) Verjährungsvorschriften und Dritte
Verjährungsregelungen begünstigen Dritte, soweit dem privilegiert Haftenden andernfalls der Rückgriff des Dritten droht.
Beispiel
V vermietet einen Kleinbus an A. M, Mitarbeiter des A, zerstört den Bus fahrlässig. V klagt zwei Jahre nach Rückerhalt des Wracks gegen A und M.
Lösung: Vertragliche Ansprüche des V gegen A sind nach § 548 BGB verjährt. Auch deliktische Ansprüche sind verjährt, da § 548 BGB als lex specialis die §§ 195, 199 BGB verdrängt.
Da im Verhältnis zu M kein Vertrag besteht, kann sich M grundsätzlich nicht auf § 548 BGB berufen. Das würde aber dazu führen, dass M nach Zahlung an V den A aufgrund des Arbeitsvertrages auf Freistellung in Anspruch nehmen könnte. Die Verjährung würde dem A also nichts nützen. Aus diesem Grund kann sich M doch auf § 548 BGB berufen. Es bestehen damit keine durchsetzbaren Ansprüche des V gegen A und M.
c) Familienrechtliche Haftungsprivilegierungen
Eine Besonderheit gibt es außerdem bei gesetzlichen Haftungsprivilegierungen aufgrund besonderer persönlicher Nähe zu beachten. Zu nennen sind hier vor allem § 1664 I BGB, § 1359 BGB und § 4 LPartG. Hiernach haften Eltern, Ehegatten und Lebenspartner nur für sogenannte eigenübliche Sorgfalt.
Beispiel
Sachverhalt
Vater S1 des sechsjährigen G ist mit ihm auf einem Spielplatz. S1 ist grundsätzlich eher unaufmerksam und lässt G leicht fahrlässig aus den Augen. G betritt eine neben dem Spielplatz gelegene Baustelle des S2. Die Baustelle war nicht ordnungsgemäß abgesichert. G verletzt sich auf der Baustelle.
Lösung
Grundsätzlich kann man den Fall wie den ersten Beispielsfall angehen und die drei vertretenen Ansätze darstellen. Es empfiehlt sich, kurz klarzustellen, dass der dritte Ansatz grundsätzlich die herrschende Meinung ist. Jedoch macht diese von dieser Handhabung eine Ausnahme in den Fällen, in denen eine familienrechtliche Haftungsprivilegierung vorliegt.
Sinn und Zweck der §§ 1164 I, 1359 BGB; § 4 LPartG ist es, den innerfamiliären Frieden zu wahren. Um dieses Ziel zu wahren, wird von der herrschenden Meinung in diesen Fällen eine volle Haftung des nicht privilegierten Schädigers (S2) angenommen. Dieser kann auch keinen Regress beim privilegierten Schädiger (S1) nehmen. Es wird keine Kürzung des Anspruchs des Geschädigten vorgenommen. Dafür wird angeführt, dass ansonsten das Kind (bzw. der Ehegatte/Lebenspartner) die wirtschaftlichen Folgen tragen würde, wenn der privilegierte Schädiger belastet würde und weniger Geld für den Unterhalt zur Verfügung stünde.
G kann demnach vollen Schadensersatz von S2 verlangen.
d) Privilegierung im Straßenverkehrsrecht
Merke
Beachte, dass es umstritten ist, ob es im Straßenverkehr eine Haftungsprivilegierung auf eigenübliche Sorgfalt überhaupt geben kann. Die herrschende Meinung lehnt dies mit dem Argument ab, dass im Straßenverkehr generell streng gehaftet werden soll. Dem Schädiger soll seine individuelle Sorglosigkeit hier nicht zugute kommen. In der Folge finden §§ 1664 I, 1359 BGB und § 4 LPartG keine Anwendung bei Ereignissen im Straßenverkehr.