Dieser Artikel behandelt das Festnahmerecht nach § 127 StPO. Das Festnahmerecht nach § 127 StPO ist ein Rechtfertigungsgrund im Strafrecht und regelt das Recht eines jeden Bürgers sowie der Strafverfolgungsbehörden, unter bestimmten Voraussetzungen eigenständig eine Person festzunehmen. § 127 StPO basiert auf dem Grundgedanken der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr und dient mithin allein dem öffentlichen Interesse. Anders als bei der Notwehr nach § 32 StGB, bei der es um die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs auf Individualrechtsgüter geht (Recht braucht Unrecht nicht zu weichen) oder dem rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB, bei dem es um den Schutz eines höherwertigen Rechtsguts geht, steht bei der vorläufigen Festnahme das Ziel im Vordergrund, die Identitätsfeststellung zu gewährleisten und den Täter der Justiz zuzuführen.
I. Allgemein
Zunächst ist zwischen § 127 Abs. 1 und Abs. 2 StPO zu unterscheiden. Absatz 1 regelt das sogenannte Jedermann-Festnahmerecht, während Absatz 2 ausschließlich für Strafverfolgungsorgane gilt. In Strafrechtsklausuren ist insbesondere § 127 Abs. 1 StPO relevant, da er besondere Voraussetzungen enthält und mit einem klassischen Meinungsstreit verbunden ist.
Durch Absatz 1 wird es jedem Bürger erlaubt, in Stellvertretung für nicht anwesende Strafverfolgungsbehörden eine Person vorläufig festzunehmen, wenn diese auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wird.
Absatz 2 stellt hingegen geringere Anforderungen an die Eindeutigkeit des strafrechtlich relevanten Handelns. Hier genügt bereits ein dringender Tatverdacht, weshalb dieses Festnahmerecht ausschließlich für Strafverfolgungsorgane gilt. Absatz 2 ist weniger relevant.
Beide Absätze sind als das Unrecht der Tat ausschließende Rechtfertigungsgründe im Rahmen der Rechtswidrigkeit der Tat zu prüfen. Wie auch die Notwehr und der Notstand besteht § 127 Absatz 1 StPO aus den objektiven Rechtfertigungselementen der Rechtfertigungslage (Festnahmelage), einer Rechtfertigungshandlung (Festnahmehandlung) und einem subjektiven Rechtfertigungselement (Festnahmeabsicht).
1. Prüfungsschema

II. Festnahmelage
1. Tat eines anderen
Zunächst muss eine Tat einer anderen Person vorliegen.
Definition
Unter “Tat” ist jede verfolgbare Straftat zu verstehen, also eine strafrechtlich relevante Handlung, die entweder bereits ausgeführt wird oder wurde oder unmittelbar bevorsteht.
Fraglich ist dabei, ob tatsächlich eine Tat vorliegen muss, oder ob ein dringender Tatverdacht, der ebenfalls zu einem Haftbefehl nach §§ 114, 112 StPO berechtigen würde, vorliegen muss.
Problem
Ist unter “Tat” auch ein dringender Tatverdacht zu verstehen?
Die BGH-Zivilsenate vertreten die Meinung, dass unter “Tat” auch ein dringender Tatverdacht im Sinne des § 112 StPO zu verstehen sei. Eine richtige Einschätzung der Lage sei nicht immer möglich, vielmehr könnten dem Festnehmenden wegen der Erforderlichkeit schnellen Handelns Fehler unterlaufen. Die Bereitwilligkeit zu altruistischem Handeln liege im Interesse der Allgemeinheit und müsse auch durch die Rechtsordnung gefördert werden. Die Bereitwilligkeit würde massiv Schaden nehmen, wenn der Festnehmende das Irrtumsrisiko trage.
Die herrschende Meinung hingegen verlangt eine tatsächlich begangene Straftat; ein Tatverdacht genüge nicht. Dem vermeintlichen Täter würde das Notwehrrecht genommen, wenn der irrig Annehmende trotzdem gerechtfertigt sei. Das altruistische Handeln sei außerdem hinreichend über den Erlaubnistatbestandsirrtum geschützt, der die Vorsatztat entfallen lässt.
Stellungnahme: Die herrschende Meinung überzeugt mit Blick auf die Systematik des § 127 StPO. In Absatz 2 sind gerade die Fälle geregelt, in denen eine vorläufige Festnahme ausnahmsweise auch ohne das tatsächliche Vorliegen einer Straftat gerechtfertigt ist. Im Falle des dringenden Tatverdachts steht das Recht zur vorläufigen Festnahme aber nur Strafverfolgungsorganen zu. Absatz 2 wäre mithin überflüssig, wenn nach Absatz 1 bereits Jedermann bei dringendem Tatverdacht gerechtfertigt ist.
2. Frisch betroffen oder frisch verfolgt
Weiterhin muss der Täter einer tatsächlich vorliegenden Straftat auf frischer Tat betroffen oder auf frischer Tat verfolgt sein.
Definition
Auf frischer Tat betroffen ist, wer bei der Begehung einer rechtswidrigen Tat oder unmittelbar danach am Tatort oder in dessen unmittelbarer Nähe gestellt wird
Definition
Auf frischer Tat verfolgt ist derjenige, der sich bereits vom Tatort entfernt hat, auf den jedoch sichere Anhaltspunkte als Täter hinweisen und dessen Verfolgung zum Zwecke seiner Ergreifung aufgenommen wird.
Ein zu beachtender Sonderfall ist der flüchtige Ausbrecher. Strafgefangene, die ausbrechen, dürfen nicht nach § 127 I StPO festgehalten werden. Die Selbstbefreiung ist nicht strafbar, sodass andere weiter zurückliegende Straftaten nicht mehr “frisch” sind. Hier muss genau hingeschaut werden.
3. Fluchtverdacht oder keine sofortige Identitätsfeststellung möglich
Der letzte Prüfungspunkt der Festnahmelage ist der Festnahmegrund. Eine Rechtfertigung nach § 127 I StPO kommt nur in Betracht, wenn ein Fluchtverdacht des auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten besteht, oder dessen Identitätsfeststellung nicht sofort möglich ist.
Definition
Fluchtverdacht liegt vor, wenn der Festnehmende nach dem erkennbaren Verhalten des Täters und nach seiner allgemeinen Lebenserfahrung berechtigterweise annehmen darf, der Täter werde sich dem Strafverfahren durch Flucht entziehen, wenn er nicht alsbald festgenommen wird.
Definition
Eine Identitätsfeststellung ist nicht sofort möglich, wenn der Name des Täters nicht bekannt und Angaben zur Person verweigert werden oder er sich nicht ausweisen kann.
III. Festnahmehandlung
Insofern die Festnahmelage bejaht wird, muss die Festnahmehandlung geprüft werden. Die Festnahmehandlung muss erforderlich sein und unterliegt wegen seines öffentlich-rechtlichen Charakters einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.
1. Erforderlichkeit
Die Erforderlichkeitsprüfung weist keine Besonderheiten auf.
Definition
Die Festnahmehandlung ist erforderlich, wenn sie das relativ mildeste Mittel darstellt, mit dem der Festnahmezweck (Sicherstellung der staatlichen Strafverfolgung durch Verhinderung der Fluchtgefahr oder Identitätsfeststellung) erreicht werden kann.
2. Verhältnismäßigkeit
Im Rahmen der sich anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung muss geprüft werden, ob der Eingriff in die Rechtsgüter des Festgenommenen durch die Festnahmehandlung im Verhältnis zum öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung steht.
§ 127 I StPO erlaubt lediglich die Festnahme, sodass zulässige (verhältnismäßige) Festnahmemittel grundsätzlich nur solche sind, die zwangsläufig mit einer Festnahme verbunden sind.
Beispiel
Freiheitsberaubung, § 239 StGB (z. B. durch Festhalten)
Nötigung, § 240 StGB (z. B. durch Drohung)
einfache Körperverletzung, § 223 StGB (z. B. blaue Flecke durch Festhalten)
Sachbeschädigung, § 303 StGB (z. B. Beschädigung der Kleidung)
Generell außer Verhältnis stehen solche Mittel, die darüber hinausgehend Leib und Leben des Festzunehmenden ernsthaft beeinträchtigen. Darunter fallen alle Mittel, die zu einer schweren Körperverletzung oder unmittelbaren Gefährdung des Lebens führen können. Das gilt auch unabhängig von der Schwere der Tat, sodass auch nicht auf einen auf frischer Tat verfolgten Mörder gezielt geschossen werden darf.
Beispiel
Kleinkrimineller A hat schon häufig im Laden des B wertvolle Gegenstände mitgehen lassen. Als B den A diesmal ertappt, flüchtet A vom Tatort, wird aber von B verfolgt. B, der erfahrener Kampfsportler ist, springt den A von hinten an und hält ihn in einem potenziell tödlichen Würgegriff. A verliert das Bewusstsein und erleidet Hirnschädigungen durch den Sauerstoffmangel.
In obigem Beispiel ist der B nicht durch § 127 I StPO gerechtfertigt, da er Leib und Leben des A durch sein Festnahmemittel in Form des Würgegriffs stark beeinträchtigt hat.
Beachtet werden muss hingegen, dass ein der Festnehmende dann nicht mehr an die strengen Schranken des § 127 I StPO gebunden ist, wenn der Täter den Festnehmenden körperlich angreift.
Beispiel
Kleinkrimineller A hat schon häufig im Laden des B wertvolle Gegenstände mitgehen lassen. Als B den A diesmal ertappt, flüchtet A vom Tatort, wird aber von B verfolgt. B, der erfahrener Kampfsportler ist, springt den A von hinten an und hält ihn am Arm fest. A, der eine Verhaftung nicht riskieren will, greift den B mit Schlägen ins Gesicht an, um sich aus dem Griff des B zu befreien. Sodann wendet B den potenziell tödlichen Würgegriff an. A verliert das Bewusstsein und erleidet Hirnschädigungen durch den Sauerstoffmangel.
In diesem Beispiel liegt hinsichtlich der Freiheitsberaubung durch den B eine Rechtfertigung durch § 127 I StPO vor. Die gefährliche Körperverletzung des B wird durch die Notwehr nach § 32 StGB infolge des Angriffs seitens A gerechtfertigt.
Merke
Auf der anderen Seite sind durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch mildere Mittel gedeckt, die mit einer typischen körperlichen Festnahmesituation eher weniger zu tun haben. So sind etwa die Wegnahme eines Reisepasses zwecks Identitätsfeststellung oder die Wegnahme eines Autoschlüssels, um die Flucht mit dem PKW zu verhindern, auch verhältnismäßig.
IV. Festnahmeabsicht
Den Abschluss der Prüfung stellt das subjektive Rechtfertigungselement dar. Hier ist die ganz herrschende Meinung, dass der Festnehmende nicht nur in Kenntnis der Festnahmesituation, sondern auch zum Zwecke der Strafverfolgung handeln muss (etwa: festhalten, um den Täter der Polizei zu übergeben).
Klausurtipp
Regelmäßige Klausurkonstellation ist der beim Einbruch festgenommene Dieb, der zunächst mit der Absicht eingesperrt wird, ihn der Polizei zu übergeben. Im weiteren Verlauf überlegt es sich der Festnehmende anders und lässt den Dieb über einen längeren Zeitraum eingesperrt, um ihn selbst zu bestrafen. Im Moment der Absichtsänderung entfällt dann die Festnahmeabsicht. Das “Eingesperrt lassen” kann dann zu einer Strafbarkeit wegen Unterlassung führen. Der Festnehmende hat zwar nicht rechtswidrig eingesperrt, er hat es aber unterlassen, die Freiheitsentziehung zu beenden. Im Rahmen der Prüfung des unechten Unterlassungsdelikts (§§ 239 I, 13 I StGB) muss dann die Garantenstellung aus Ingerenz problematisiert werden. Das Problem rund um die Frage, ob ein zunächst gerechtfertigtes Verhalten zu einer Garantenstellung aus Ingerenz führen kann, findest du hier.
Handelt der Festnehmende von Anfang an nicht zum Zwecke der Ermöglichung der Strafverfolgung, fehlt ihm die Festnahmeabsicht, also das subjektive Rechtfertigungselement, gänzlich.
1. Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements
Im Rahmen der Frage, wie das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements zu bewerten ist, werden unterschiedliche Auffassungen vertreten, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Prüfung haben. Hier sollte sich sorgfältig entschieden werden.
Beispiel
Rechtsfolge bei fehlendem subjektivem Rechtfertigungselement
Eine Mindermeinung argumentiert, dass subjektive und objektive Rechtfertigungselemente gleichwertig seien. Fehlt ein Rechtfertigungselement, scheitere die Rechtfertigung und der Täter sei aus vollendetem Delikt zu bestrafen.
Die herrschende Meinung hingegen differenziert zwischen Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht.
Fehlt ein objektives Rechtfertigungselement, stehe der Taterfolg der Festnahmehandlung im objektiven Widerspruch zur Rechtsordnung (Erfolgsunrecht), sodass die Rechtfertigungsprüfung scheitere und aus vollendetem Delikt zu bestrafen sei.
Fehlen hingegen ein subjektives Rechtfertigungselement, stehe der Taterfolg im Einklang mit der Rechtsordnung, lediglich die Festnahmehandlung sei dem Festnehmenden vorwerfbar (Handlungsunrecht). Bei einer Vorsatztat müsse dann wegen Versuchs bestraft werden.