Constellatio Logo Icon
InhalteFeaturesLernpfadePreisBlogNewsÜber unsAnmelden

Strafrecht

/

AT

/

Deliktsarten

Das Unterlassungsdelikt (§ 13 StGB)

Teilgebiet

AT

Thema

Deliktsarten

Tags

Unterlassen
Garantenstellung
Unterlassungsdelikte
Hypothetische Kausalität
Ingerenz
Entsprechungsklausel
Unechte Unterlassungsdelikte
Echte Unterlassungsdelikte
Pflichtenkollision
Pflichtwidrigkeitszusammenhang
Verhaltensgebundene Delikte
Verhaltensneutrale Delikte
§ 221 StGB
§ 242 StGB
§ 904 BGB
§ 15 StGB
§ 28 StGB
§ 32 StGB
§ 1353 BGB
§ 138 StGB
§ 142 StGB
§ 1618 BGB
§ 1626 BGB
§ 211 StGB
§ 212 StGB
§ 222 StGB
§ 240 StGB
§ 316 StGB
§ 323a StGB
§ 323c StGB
§ 327a BGB
Gliederung
  • I. Allgemeines

    • 1. Abgrenzung von echten und unechten Unterlassungsdelikten

      • a) Echte Unterlassungsdelikte

      • b) Unechte Unterlassungsdelikte

    • 2. Abgrenzung von fahrlässigem aktiven Tun und fahrlässigem Unterlassen

  • II. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges

  • III. Unterlassen der zur Erfolgsabwendung objektiv gebotenen und dem Täter real möglichen Handlung

    • 1. Unterlassen

      • a) Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit

      • b) Sonderfall: Abbruch eigener Rettungsbemühungen

      • c) Sonderfall: Vereitelung fremder Rettungsbemühungen

    • 2. Gebotene Erfolgsabwendungshandlung

    • 3. Dem Täter real-mögliche Handlung

  • IV. Garantenstellung

    • 1. Beschützergaranten

      • a) Familiäre Verbundenheit

      • b) Enge Lebensgemeinschaft

      • c) Gefahrengemeinschaft

      • d) Vertrag und tatsächliche Gewährübernahme

      • e) Amtsträgereigenschaft oder berufliche Stellung

    • 2. Überwachergaranten

      • a) Beherrschung einer Gefahrenquelle und damit einhergehende Verkehrssicherungspflichten

        • aa) Sachherrschaft

        • bb) Herrschaft über Wohnungen oder Grundstücke

        • cc) Aufsichtspflichten

      • b) Ingerenz

        • aa) Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens

        • bb) Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Vorverhalten durch aktives Tun und Eintritt des Taterfolgs

    • 3. Garantenstellung als strafbegründendes besonderes persönliches Merkmal nach § 28 I StGB

  • V. Entsprechungsklausel, § 13 StGB

  • VI. Hypothetische Kausalität

  • VII. Objektive Zurechnung

  • VIII. Subjektiver Tatbestand

  • IX. Pflichtenkollision als spezieller Rechtfertigungsgrund bei unechten Unterlassen

  • X. Versuchtes Unterlassungsdelikt

Dieser Artikel behandelt das (unechte) Unterlassungsdelikt. Anders als die echten Unterlassungsdelikte haben die unechten Unterlassungsdelikte eine hohe Examensrelevanz, da sie eine weite Bandbreite an möglichen Strafdelikten umfassen und die Voraussetzungen auswendig erlernt werden müssen, weil das Unterlassen nicht tatbestandlich aufgenommen ist.

I. Allgemeines

Das unechte Unterlassungsdelikt ist eine besondere Form der Straftat, bei der die strafrechtliche Verantwortung nicht auf einem aktiven Tun, sondern auf einem Unterlassen beruht. Anders als bei den echten Unterlassungsdelikten setzt das unechte Unterlassungsdelikt voraus, dass der Täter aufgrund einer besonderen Garantenstellung verpflichtet ist, den tatbestandsmäßigen Erfolg abzuwenden und diese Pflicht verletzt.

Die Grundlage für unechte Unterlassungsdelikte findet sich in § 13 StGB, der bestimmt, dass jemand durch Unterlassen strafbar ist, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandsmäßige Erfolg nicht eintritt. Der Täter wird dabei wie ein aktiver Täter behandelt, sofern das Unterlassen dem Verwirklichen des gesetzlichen Tatbestands durch aktives Tun entspricht. Man spricht insoweit auch von der Entsprechungsklausel.

Zitat

§ 13 I StGB:

“Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.”

1. Abgrenzung von echten und unechten Unterlassungsdelikten

Zunächst ist es wichtig, den Unterschied von echten und unechten Unterlassungsdelikten zu verstehen. Während echte Unterlassungsdelikte schon tatbestandlich im Delikt selbst ein Unterlassen unter Strafe stellen, zeichnen sich unechte Unterlassungsdelikte dadurch aus, dass sich die Strafbarkeit erst im Zusammenspiel mit § 13 StGB ergibt.

a) Echte Unterlassungsdelikte

Echte Unterlassungsdelikte sind also spezielle Straftatbestände, die den Täter ausdrücklich für ein Nicht-Handeln unter Strafe stellen, unabhängig davon, ob er eine besondere Garantenstellung innehat. Im Gegensatz zu unechten Unterlassungsdelikten ist hier allein das pflichtwidrige Unterlassen einer deliktspezifischen Handlung tatbestandsmäßig, ohne dass ein konkreter Taterfolg eintreten muss. Man spricht insoweit auch von Gebotsnormen, weil ein bestimmtes Verhalten geboten ist. Zu den wichtigsten echten Unterlassungsdelikten gehören:

  • § 323c StGB: Unterlassene Hilfeleistung (”wer nicht Hilfe leistet” = Unterlassen),

  • § 138 StGB: Nichtanzeige geplanter Straftaten,

  • § 123 I Alt. 2 StGB: Hausfriedensbruch (”sich nicht entfernt” = Unterlassen),

  • § 221 StGB: Aussetzung (BGH: ”im Stich lassen” = Unterlassen—> strittig!),

  • § 142 II StGB: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (Pflichten des Unfallbeteiligten).

Diese Tatbestände schützen spezifische Rechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit oder das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit und stellen klare Handlungspflichten auf, deren Verletzung strafbar ist.

b) Unechte Unterlassungsdelikte

Unechte Unterlassungsdelikte beruhen auf der Verletzung einer rechtlichen Garantenpflicht, die den Täter dazu verpflichtet, einen tatbestandsmäßigen Erfolg aktiv zu verhindern. Im Gegensatz zu echten Unterlassungsdelikten sind sie nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt, sondern setzen voraus, dass ein bereits bestehender Straftatbestand (z. B. Totschlag, Körperverletzung) durch Unterlassen erfüllt wird. Die Grundlage hierfür ist der erwähnte § 13 StGB, der die Strafbarkeit für das pflichtwidrige Unterlassen normiert. Das bedeutet, dass grundsätzlich jeder Straftatbestand auch durch Unterlassen verwirklicht werden kann. Typische unechte Unterlassungsdelikte ergeben sich etwa, wenn Eltern ihre Schutzpflicht ihren Kindern gegenüber verletzen oder Ärzte ihre Patienten nicht behandeln, obwohl sie dazu verpflichtet sind. Entscheidend ist, dass der Täter durch aktives Eingreifen den Erfolg hätte verhindern können und rechtlich dazu verpflichtet war.

Beispiel

Rettungsschwimmer R sieht, wie der kleine Oliver O im Freibad ertrinkt. R sieht sich nicht dazu verpflichtet zu helfen, weil O dem R kurz zuvor frech angesprochen hat. O ertrinkt.

Hier war R dazu verpflichtet, den Erfolg (Tod des O) durch aktives Tun abzuwenden. R ist gemäß §§ 212 I, 13 I StGB strafbar.

Merke

Während echte Unterlassungsdelikte keinen tatbestandlichen Erfolg voraussetzen und das deliktspezifische Nichthandeln tatbestandlich vorgegeben ist, muss der Täter eines unechten Unterlassungsdelikts in der Lage gewesen sein, einen tatbestandlichen Erfolg durch aktives Tun abzuwenden.

Web App FeatureUnsere Grafiken sind nur in der Web App verfügbar.
Platzhalter Grafik

2. Abgrenzung von fahrlässigem aktiven Tun und fahrlässigem Unterlassen

Im Rahmen der unechten Unterlassungsdelikte ist noch zu beachten, dass auch ein fahrlässiges Unterlassen strafbar sein kann. Weil gemäß § 15 StGB fahrlässiges Handeln nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen strafbar ist, kommt eine Strafbarkeit durch fahrlässiges Unterlassen nur in Betracht, wenn dieses einem fahrlässigen Tun entspricht, das unter Strafe gestellt ist. Sowohl in der Praxis als auch im Rahmen der Klausur ist das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt jedoch von geringer Bedeutung. Das liegt daran, dass die Abgrenzung von fahrlässigem aktivem Tun und fahrlässigem Unterlassen wegen des normativen Kriteriums des “Schwerpunkts der Vorwerfbarkeit” erschwert wird. Auch wenn das Fahrlässigkeitsdelikts begrifflich schon ein Unterlassen in Form der Nichteinhaltung der gebotenen Sorgfalt voraussetzt, wird der spezifische Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit regelmäßig in einem aktiven Tun liegen, das die Nichteinhaltung der gebotenen Sorgfalt begründet.

Beispiel

Rettungsschwimmer R hasst seinen Job und ist seit Längerem nur noch “mit einem Auge” bei der Arbeit. Nebenbei schaut er hin und wieder TokTok, um sich die Langeweile zu vertreiben. Er vertraut aber fest darauf, dass nichts passiert, wie die letzten Monate zuvor auch. Daher sieht er nicht, wie direkt neben ihm der kleine Oliver O ertrinkt.

Eine Strafbarkeit wegen §§ 212 I, 13 I StGB ist ausgeschlossen, weil R nicht vorsätzlich handelte. Daher kommt nur eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB in Betracht. Fraglich ist, ob der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Unterlassen oder aktivem Tun liegt. In solch gelagerten Fällen wird der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit jedoch in dem Verhalten liegen, das die Nichteinhaltung der gebotenen Sorgfalt begründet, was regelmäßig ein aktives Tun darstellt. Hätte R nicht auf seinem Handy TokTok geschaut, wäre er nicht abgelenkt gewesen und hätte den ertrinkenden O gesehen.

Vernetztes Lernen

Insofern der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit doch in einem fahrlässigen Unterlassen liegen sollte, setzt sich das Prüfungsschema aus den Modulen “Schema Fahrlässigkeitsdelikt”, und “Schema Unterlassungsdelikt” zusammen. Den Artikel zum modularen Arbeiten kannst du dir hier durchlesen und den Artikel zum Fahrlässigkeitsdelikt hier.

Web App FeatureUnsere Grafiken sind nur in der Web App verfügbar.
Platzhalter Grafik

Merke

Es mag dir vielleicht schon aufgefallen sein:

Die objektive Zurechnung wird bei Fahrlässigkeitsdelikten (egal, ob durch Unterlassung oder aktives Tun) nicht direkt nach der (hypothetischen) Kausalität geprüft, sondern erst nach der Feststellung der objektiven Fahrlässigkeit. Während die (hypothetische) Kausalität irgendein Handeln oder Unterlassen dem Erfolg kausal zuordnet, muss im Rahmen der objektiven Fahrlässigkeit geprüft werden, ob dieses kausale Handeln oder Unterlassen auch objektiv pflichtwidrig und vorhersehbar war. Die im Anschluss zu prüfende Objektive Zurechnung hat bei Fahrlässigkeitsdelikten nämlich nicht nur den Zweck, die Kausalität irgendeines Handelns oder Unterlassens einzuschränken, sondern begrenzt durch die Fallgruppe des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs explizit auch die Verantwortlichkeit für ein an sich pflichtwidriges Handeln oder Unterlassen. Es wäre aufbaulogisch inkonsequent, direkt nach der Feststellung der (hypothetischen) Kausalität auf ein rechtmäßiges hypothetisches Alternativverhalten einzugehen (d.h. Feststellung, dass der Erfolg auch ohne Pflichtverletzung eingetreten wäre—> siehe dazu weiter unten auch zur Ingerenz). Denn hierfür muss zunächst einmal festgestellt worden sein, dass eine Pflichtwidrigkeit vorliegt.

Daher:

  • Erst die Kausalität irgendeines Handelns oder Unterlassens feststellen,

  • dann prüfen, ob dieses Handeln oder Unterlassen auch pflichtwidrig war und

  • dann prüfen, ob die objektive Zurechnung durch die Fallgruppen, insbesondere den Pflichtwidrigkeitszusammenhang (hypothetisch rechtmäßiges Alternativverhalten) ausgeschlossen ist.

II. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges

Wie bereits erwähnt, setzen unechte Unterlassungsdelikte immer einen deliktspezifischen tatbestandlichen Erfolg voraus. Zunächst muss geprüft werden, ob dieser tatbestandliche Erfolg auch tatsächlich eingetreten ist. Anderenfalls kommt nur ein Versuch des Unterlassungsdelikts in Frage (dazu weiter unten).

III. Unterlassen der zur Erfolgsabwendung objektiv gebotenen und dem Täter real möglichen Handlung

Im weiteren Verlauf muss geprüft werden, ob dem Täter ein Unterlassen vorgeworfen werden kann und ob die vorzunehmende Handlung, die den Erfolgseintritt verhindert hätte, objektiv geboten und dem Täter real möglich war.

1. Unterlassen

Zunächst muss erst einmal festgestellt werden, ob das vorwerfbare Verhalten des Täters überhaupt in einem Unterlassen oder einem aktiven Tun liegt. Zur Bewertung dieser Frage wird der naturalistische Ansatz herangezogen.

Definition

Nach dem naturalistischen Ansatz liegt aktives Tun vor, wenn der Täter positive Energie in Richtung des verletzten Rechtsguts entfaltet hat.

a) Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit

Bei mehrfachen Verhaltensweisen, die eine Zweideutigkeit aufweisen, wird der naturalistische Ansatz nach der herrschenden Meinung durch den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ergänzt. Es stellt sich die Frage, ob der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im aktiven Tun oder im unterlassenden Verhalten liegt. Ausschlaggebend hierfür sind die konkreten Umstände des Einzelfalls sowie der soziale Sinn der Handlung. Dabei handelt es sich nicht um eine normative, sondern um eine wertende Entscheidung. Probleme bereitet die Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen vor allem im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte (siehe oben).

Klausurtipp

In der Klausur kommt es hier auf eine saubere Argumentation an, die in sich schlüssig ist und die konkreten Umstände des Einzelfalls - also die einschlägigen Sachverhaltsangaben - einbezieht.

b) Sonderfall: Abbruch eigener Rettungsbemühungen

Einen Sonderfall der zweideutigen Verhaltensweisen stellen die Rettungsbemühungen eines Täters dar, wenn diese abgebrochen werden. Hier stellt sich die Frage, ob der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit darin liegt, dass der Täter die Rettungshandlung aktiv abbricht oder es unterlässt, die Rettung zu beenden. Wichtiges Kriterium zur Beantwortung dieser Frage ist, ob bereits eine gesicherte Rettungschance besteht oder nicht.

Wenn der Täter eine Rettungshandlung abbricht, die noch nicht dazu führte, dass das Opfer sicher gerettet werden kann, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Unterlassen.

Beispiel

Rettungsschwimmer R sieht einen Menschen ertrinken. Noch bevor er diesem angekommen ist, erkennt er, dass es sich um seinen verhassten Nachbarn N handelt. R kehrt wieder um. N ertrinkt. R ist strafbar aus §§ 212 I, 13 I StGB.

Bricht der Täter hingegen seine Rettungshandlung ab, wenn bereits eine gesicherte Rettungschance besteht, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem aktiven Tun.

Beispiel

Rettungsschwimmer R sieht einen Menschen ertrinken. R springt ins Wasser und schwimmt zur ertrinkenden Person und schleppt diese ab. Kurz bevor sie das Ufer erreichen, erkennt R, dass es sich um seinen verhassten Nachbarn N handelt. Er lässt den N los und schwimmt die letzten Meter allein ans Ufer. N ertrinkt. R ist strafbar aus §§ 212 I StGB.

c) Sonderfall: Vereitelung fremder Rettungsbemühungen

Probleme bei der Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen im Rahmen des Schwerpunkts der Vorwerfbarkeit bereiten nicht nur eigene Rettungsbemühungen, sondern auch die Beeinflussung fremder Rettungsbemühungen.

Verweigert ein Garantenpflichtiger seine Mithilfe bei einer Rettung, die nur im Zusammenspiel mit einem anderen Retter zum Erfolg führt, oder verweigert er das zur Verfügungstellen von Rettungsmitteln, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Unterlassen.

Beispiel

Rettungsschwimmer R und T sehen, wie der N in weiterer Entfernung ertrinkt. R erkennt, dass es sich um seinen verhassten Nachbarn N handelt. Als T den R dazu auffordert, den N gemeinsam zu retten, verweigert R seine Mithilfe. Auch als T den R auffordert, den Schlüssel für das Schlauchboot herauszugeben, mit dem der T den N auch allein hätte retten können, verweigert R. R ist strafbar gemäß § 212 I, 13 I StGB.

Hält der Garantenpflichtige den anderen Retter hingegen mit tatherrschaftsbegründenden psychischen oder physischen Mitteln von seiner Rettungshandlung ab, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit hingegen in einem aktiven Tun.

Beispiel

Rettungsschwimmer R und T sehen den N ertrinken, wobei R den N als seinen verhassten Nachbarn N identifiziert. Als T zur Tat schreiten und den N retten will, droht der körperlich überlegene R damit, den T „windelweich“ zu prügeln, sodass er nie wieder Menschen retten könne, wenn er dem N nun helfe. Der verängstigte T, der schon in der Vergangenheit unter dem aggressiven Verhalten des R gelitten hat, sieht von einer Rettung ab. Der N ertrinkt. R ist strafbar gemäß § 212 I StGB.

2. Gebotene Erfolgsabwendungshandlung

Definition

Die unterlassene Erfolgsabwendungshandlung ist objektiv geboten, wenn sie geeignet ist und in einem angemessenen Verhältnis zum drohenden Erfolg steht.

Erfolgsabwendungshandlungen, die ein übermäßiges Risiko für den Garantenpflichtigen bedeuten, sind nicht verhältnismäßig und können dem Garanten nicht zugemutet werden.

Beispiel

Feuerwehrmann F befindet sich im Einsatz bei einem Wohnungsbrand. Er hat bereits mehrere Personen aus dem Gebäude gerettet. Eine letzte Person P schreit um Hilfe, ist aber in einem Teil des Gebäudes eingeschlossen, der stark einsturzgefährdet ist. F weiß, dass P sicher sterben wird, wenn er sie nicht rettet. Um die Person aber zu retten, müsste F das Risiko eingehen, selbst verschüttet oder tödlich verletzt zu werden. P stirbt.

In diesem Fall ist das Risiko für den garantenpflichtigen Feuerwehrmann zu hoch und damit nicht mehr verhältnismäßig und geboten. Eine Strafbarkeit scheidet aus.

Vernetztes Lernen

Dieser Fall ist nicht zu verwechseln mit der Pflichtenkollision. Der Unterschied liegt darin, dass zwei gleichwertige Pflichten aufeinandertreffen und so die Erfüllung der einen Pflicht das Nicht-Erfüllen der anderen Pflicht rechtfertigt. Die Pflichtenkollision wird weiter unten behandelt.

3. Dem Täter real-mögliche Handlung

Neben der objektiven Gebotenheit muss geprüft werden, ob dem Täter die Erfolgsabwendungshandlung auch real-möglich war. Während die Gebotenheit sich darauf bezieht, ob die Erfolgsabwendungshandlung objektiv verhältnismäßig ist, bezieht sich die Real-Möglichkeit darauf, ob der Täter in der Lage war, die objektiv gebotene Handlung tatsächlich auszuführen.

Beispiel

A sieht, wie der Nachbarsjunge J in einem See nicht weit vom Ufer ertrinkt, der frei zugänglich auf seinem Grundstück liegt. A hat den See nicht ausreichend abgesichert oder überwacht. Da A Nichtschwimmer ist, entscheidet er sich gegen eine Rettung. Sofort durch A herbeigerufene Hilfe kann J nicht retten.

Die Rettung wäre objektiv geboten gewesen, weil ein durchschnittlicher Dritter (Schwimmer) ohne übermäßiges Risiko hätte eingreifen können. Da A jedoch Nichtschwimmer ist, war es ihm real nicht möglich, die gebotene Handlung auszuführen. A ist nicht wegen §§ 212 I, 13 I StGB strafbar. Allerdings besteht eine Garantenpflicht wegen Unterhaltung einer Gefahrenquelle. Weil A diese nicht hinreichend abgesichert hat, besteht eine Strafbarkeit aus §§ 222, 13 I StGB.

IV. Garantenstellung

Von entscheidender Bedeutung für eine Strafbarkeit aus unechtem Unterlassungsdelikt sind die Garantenpflichten. Ohne dass eine Garantenstellung besteht, scheitert eine Strafbarkeit aus unechtem Unterlassungsdelikt und es kommt lediglich eine Strafbarkeit aus echtem Unterlassungsdelikt (z. B. unterlassene Hilfeleistung § 323c StGB) in Frage. Innerhalb der Garantenstellungen wird zwischen Überwachergaranten und Beschützergaranten unterschieden.

Web App FeatureUnsere Grafiken sind nur in der Web App verfügbar.
Platzhalter Grafik

1. Beschützergaranten

Beschützergaranten sind solche Personen, denen eine umfassende Obhutspflicht für ein spezielles Rechtsgut zukommt. Umfassende Obhutspflichten können sich aus verschiedenen Umständen heraus ergeben. Die wichtigsten Beschützergaranten können sich ergeben aus:

a) Familiäre Verbundenheit

  • § 1353 BGB (Eheliche Lebensgemeinschaft): Verpflichtung entfällt erst bei ernsthafter Trennung, ohne die eheliche Lebensgemeinschaft wiederherstellen zu wollen.

  • § 1626 BGB (Elterliche Sorge): Eltern haben die Pflicht zur Sorge für minderjährige Kinder.

  • § 1618a BGB (Gegenseitige Pflicht von Eltern und Kindern): Eltern und Kinder schulden einander Beistand und Rücksicht.

  • § 1809 BGB (Obhutspflichten des Pflegers)

  • § 1589 BGB (Verwandte gerader Linie): Insofern in einer gemeinsamen häuslichen Lebensgemeinschaft

b) Enge Lebensgemeinschaft

  • Eheähnliche Lebensgemeinschaften

  • Wohngemeinschaften, wenn sie auf gegenseitigen Beistand und Vertrauen ausgelegt sind

c) Gefahrengemeinschaft

  • Gemeinschaften, die sich gemeinschaftlich in Gefahrensituationen begeben und sich gegenseitigen Schutz (auch konkludent) versprochen haben (z. B. Wandergruppe, Bergsteigergruppe, Segelgruppe)

d) Vertrag und tatsächliche Gewährübernahme

  • Vertragliche Übernahme von Obhutspflichten (z. B. Behandlungsvertrag, Babysittervertrag, Kindergärtner, Lehrer, Bademeister)

  • Tatsächliche Übernahme von Schutzpflichten (z. B. Ankündigung der Rettung einer Person, zu der bisher noch keine Garantenstellung bestand, sodass sich andere Rettungswillige abwenden)

e) Amtsträgereigenschaft oder berufliche Stellung

  • Polizisten, Feuerwehrleute, Vollzugsbeamte in Haftanstalten, Staatsanwälte

  • Gesellschafter und Geschäftsführer von juristischen Personen (Vermögensbetreuungspflicht)

2. Überwachergaranten

Überwachergaranten sind solche Personen, denen Sicherungspflichten und damit die Verantwortung über bestimmte Gefahrenquellen obliegen. Die wichtigsten Überwachergaranten können sich ergeben aus:

a) Beherrschung einer Gefahrenquelle und damit einhergehende Verkehrssicherungspflichten

Überwacherpflichten können sich vor allem aus der Beherrschung von Gefahrenquellen ergeben. Dabei sind vor allem die gefährliche Sachen, Grundstücke oder Menschen von entscheidender Bedeutung.

aa) Sachherrschaft
  • Gefährliche Anlagen, z. B. Baustellen, Umspannungswerke, Teiche, Schwimmbäder

  • Gefährliche Tiere, z. B. Hunde, Schlangen, Spinnen

bb) Herrschaft über Wohnungen oder Grundstücke
  • Aufnahme von Gästen in die Wohnung

  • Grundstücke mit gefährlichen Abhängen, einsturzgefährdeten Bauten oder anderen Gefahrenquellen

cc) Aufsichtspflichten
  • Kinder, die Gefahren nicht erkennen können

  • Orientierungslose alte Menschen oder behinderte Personen

  • Lehrer und Erzieher, Babysitter aus Gefälligkeit

b) Ingerenz

Die Ingerenz ist wohl die klausurträchtigste und am meisten problembehaftete Gruppe.

Definition

Ingerenz meint die Pflicht zur Abwendung von eintretenden Schäden, die sich auf ein pflichtwidriges und gefahrschaffendes Vorverhalten zurückführen lassen.

Beispiel

A bricht bei einer Bank ein. Er sieht, dass Wachmann W vor Ort ist und zwingt diesen mit vorgehaltener Waffe, sich auf den Boden zu legen. W hat Todesangst und erleidet einen Herzinfarkt. A kümmert sich nicht weiter und flüchtet, um einer Strafverfolgung zu entgehen. W stirbt.

In diesem Fall hat der A durch sein gefahrschaffendes Vorverhalten (Bedrohung mit der Waffe) einen Schaden verursacht (Tod des W), zu dessen Abwendung er verpflichtet gewesen wäre. A hat eine Überwachergarantenstellung aus Ingerenz.

aa) Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens

Problematisch wird die Fallgruppe der Ingerenz, wenn es sich bei dem gefahrschaffenden Vorverhalten zwar um ein pflichtwidriges Vorverhalten handelt, das aber gerechtfertigt ist

Beispiel

A sticht auf seinen Zechkumpanen B im Rahmen eines Streits mit einem Messer ein und verletzt ihn schwer. Zuvor hatte jedoch B den A angegriffen, sodass A in Notwehr nach § 32 StGB gehandelt hat. Als A erkennt, dass B durch den Stich in Lebensgefahr schwebt und durch das Herbeirufen eines Arztes gerettet werden könnte, unternimmt er jedoch nichts. Stattdessen lässt A B bewusstlos und hilflos zurück, obwohl er billigend in Kauf nimmt, dass B stirbt. B verblutet.

Problem

Ist auch rechtmäßiges Vorverhalten von der Ingerenz umfasst?

  • Mindermeinung:

    Nach einer Ansicht reicht es aus, dass der Täter durch sein Vorverhalten eine nahe, adäquate Gefahr des Erfolges geschaffen hat. Auf eine Pflichtwidrigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verhaltens komme es nicht an.

  • Herrschende Meinung:

    Die herrschende Meinung fordert ein pflichtwidriges Vorverhalten, das die Gefahr für den Erfolg nahelegt. Wer sich sozial adäquat verhält oder gerechtfertigt handelt, begründet keine Ingerenz.

  • Stellungnahme: Der herrschenden Meinung ist zuzustimmen. Eine Strafbarkeit aus Ingerenz ohne Pflichtwidrigkeit würde im Widerspruch zur Erfolgszurechnung bei rechtmäßigem Verhalten stehen. Denn wer das Maß des erlaubten Risikos nicht überschreitet, weil er sich sozial adäquat verhält oder gerechtfertigt handelt, könnte schon als Begehungstäter nicht für die Erfolgsherbeiführung zur Verantwortung gezogen werden.

Im obigen Beispiel hat A in Notwehr gehandelt, sodass seine Handlung keine objektive Pflichtwidrigkeit mehr begründet. A hat keine Garantenstellung aus Ingerenz.

Allerdings gibt es auch Ausnahmen im Rahmen der herrschenden Meinungen, bei denen ein gerechtfertigtes Verhalten zu einer Garantenstellung aus Ingerenz führt:

Beispiel

A bricht morgens bei B ein. B sperrt den A daraufhin in ein Kellerabteil ein, um ihn der Polizei zu übergeben. Allerdings will B den dreisten Dieb zunächst noch etwas schmoren lassen, um sich zu rächen. B holt erst abends die Polizei herbei.

Trotz ursprünglich rechtmäßig geschaffener Gefahr für das Rechtsgut des A ist B wegen Freiheitsberaubung durch Unterlassen (§§ 239 I, 13 I StGB) strafbar, weil die Voraussetzungen für die rechtmäßige Aufrechterhaltung dieser Gefahr zwischenzeitlich entfallen ist.

Beispiel

A geht mit seinem äußerst aggressiven Hund Gassi. Dieser stürzt sich unerwartet auf den vorbeilaufenden Passanten P. Um sich vor einer Bissattacke zu wehren, sieht sich P dazu gezwungen, eine Latte aus dem Zaun des N herauszubrechen. P wehrt den Angriff erfolgreich ab und lässt die Latte liegen, ohne sich weiter darum zu kümmern. In der Folge entlaufen die Enten des N auf die Straße und werden überfahren.

Hier hatte A eine Garantenstellung aus Ingerenz, obwohl er die Gefahr gerechtfertigt herbeiführte. Begründet wird diese Rückausnahme damit, dass hier die Rechtsgüter einer unbeteiligten Dritten verletzt werden und dem Notständler damit eine besondere Verantwortung zuteilwird. Dieser Rechtsgedanke ergibt sich aus § 904 S. 2 BGB.

bb) Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Vorverhalten durch aktives Tun und Eintritt des Taterfolgs

Ein weiteres etwas komplizierteres Problem ergibt sich im Rahmen der Frage, ob stets ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Vorverhalten und Erfolgseintritt vorausgesetzt wird.

Insofern ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht, der rechtlich missbilligte Taterfolg also konkret auf das gefahrschaffende Vorverhalten (also die Pflichtwidrigkeit durch aktives Tun) zurückgeführt werden kann, bestehen keine Probleme. Fraglich ist aber, wie es zu bewerten ist, wenn dieser Pflichtwidrigkeitszusammenhang fehlt.

Beispiel

LKW-Fahrer F fährt mit zu geringem Seitenabstand an dem Radfahrer R vorbei. In der Folge gerät R unter die Räder und erleidet schwerste Verletzungen. F sieht, was vorgefallen ist, fährt jedoch weiter, weil er Angst vor Strafverfolgung hat. Dabei nimmt er in Kauf, dass R sterben könnte. R stirbt. Im Rahmen eines angeforderten Gutachtens kommt heraus, dass R auch bei korrekt eingehaltenem Seitenabstand unter die Räder geraten wäre.

Problem

Erforderlichkeit eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs im Rahmen der Ingerenz

  • Herrschende Meinung: Die herrschende Meinung verneint die Erforderlichkeit eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Es genüge, dass das Vorverhalten in der Verletzung eines Gebots bestand, das gerade dem Schutz des verletzten Rechtsguts zu dienen bestimmt war, und damit eine Pflichtwidrigkeit vorliegt, die sich zumindest gefahrerhöhend ausgewirkt hat.

  • Mindermeinung: Eine Mindermeinung fordert das Vorliegen eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Die konkrete Gefahr, die der Täter später unterlassen hat abzuwenden, muss sich gerade auf sein Vorverhalten zurückführen lassen. Ist die Pflichtwidrigkeit nur Begleitumstand, nicht aber der konkrete Grund für die Gefahr, kann die Ingerenz nicht begründet werden.

  • Stellungnahme: Es ist der herrschenden Meinung zu folgen. Anders als bei der Frage nach der Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdeliktes, geht es im Falle der Ingerenz nicht darum, dem Täter wegen seines pflichtwidrigen, aber nicht im Pflichtwidrigkeitszusammenhang stehenden Verhaltens einen konkreten Strafbarkeitsvorwurf zu machen. Vielmehr werden ihm nur Sonderpflichten auferlegt, die sich auf sein zumindest gefahrerhöhendes Verhalten gründen. Eine Strafbarkeit kommt nur dann in Betracht, wenn er diese garantenmäßige Sonderpflicht aus Ingerenz durch Unterlassen nicht erfüllt.

Im obigen Beispiel war das Verhalten des F zwar pflichtwidrig, allerdings fehlt der Pflichtwidrigkeitszusammenhang, weil die Gefahr (Überfahren des R) auch ohne seine Pflichtverletzung entstanden wäre. Nach der Mindermeinung wäre F daher nur wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar. Nach der herrschenden Meinung hat F dennoch Sonderpflichten aus Ingerenz, weil er sein Verhalten zumindest gefahrerhöhend wirkte, womit F wegen §§ 212 I, 13 I StGB strafbar wäre. Hätte der F dem R geholfen, könnte ihm kein Strafbarkeitsvorwurf gemacht werden.

Vernetztes Lernen

Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang spielt vor allem bei den Fahrlässigkeitsdelikten eine Rolle. Dort ist er Ausschlussgrund für die objektive Zurechnung, weil der Taterfolg auch bei unterstelltem hypothetisch rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre. Im Rahmen der Ingerenz geht es jedoch nicht um den Ausschluss der Strafbarkeit wegen dieser konkreten Pflichtverletzung, sondern um die Strafbarkeit wegen der sich hieraus ergebenden Sonderpflichten als Garant. Den Pflichtwidrigkeitszusammenhang kannst du dir im Artikel zum Fahrlässigkeitsdelikt durchlesen.

Merke

Beachte, dass es immer wieder Überschneidungen mit anderen Garantenstellungen gibt. Meist sind die Garantenstellungen nicht sauber voneinander abgrenzbar. Vielmehr sind häufig mehrere Pflichten einschlägig.

3. Garantenstellung als strafbegründendes besonderes persönliches Merkmal nach § 28 I StGB

Die Garantenstellung knüpft an die persönliche Stellung des Täters zum Opfer an und ist damit Ausdruck der Höchstpersönlichkeit eines unechten Unterlassungsdelikts. Zudem ist sie zwingendes Tatbestandsmerkmal des unechten Unterlassungsdelikts. Daraus ergibt sich, dass die Garantenstellung als strafbegründendes, besonderes persönliches Merkmal (ohne Garantenstellung keine Strafbarkeit) gemäß § 28 I StGB einzustufen ist.

Für den Teilnehmer bedeutet das, dass er zwar wegen der strengen Akzessorietät von Teilnahme und Täterschaft auch dann als Anstifter oder Gehilfe bestraft werden kann, wenn er selbst keine Garantenstellung innehatte, der Teilnehmer aber eine obligatorische Strafmilderung nach § 28 I StGB erwarten kann.

Die Garantenstellung als strafbegründendes besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 I StGB wird damit lediglich für den Teilnehmer an einem unechten Unterlassungsdelikt relevant, der selbst keine Garantenstellung innehat. Fehlt dem Beteiligten die Garantenstellung, kommt folglich eine Mittäterschaft durch Unterlassen nicht in Betracht. Mehr dazu findest du in diesem Artikel.

V. Entsprechungsklausel, § 13 StGB

Die Entsprechungsklausel des § 13 I StGB besagt, dass ein Unterlassen nur dann strafbar ist, wenn es der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch aktives Tun entspricht. Dies bedeutet, dass das Unterlassen in seinem Unrechtsgehalt dem aktiven Tun gleichstehen muss.

Besondere Bedeutung erlangt die Entsprechungsklausel in der Regel nur bei verhaltensgebundenen Erfolgsdelikten. Diese Delikte setzen nicht nur den Eintritt eines bestimmten Erfolges voraus, sondern auch, dass dieser Erfolg durch ein spezifisches Verhalten herbeigeführt wird. Beispiele hierfür sind:

  • Diebstahl (§ 242 StGB): Hier wird ein aktiver Gewahrsamsbruch vorausgesetzt.

  • Nötigung (§ 240 StGB): Hier ist eine Drohung mit einem empfindlichen Übel oder Gewaltanwendung erforderlich.

  • Mordmerkmale Grausamkeit und Heimtücke (§ 211 StGB): Hier wird das Herbeiführen des Todes durch eine besondere Handlungsweise (grausam und heimtückisch) gefordert.

Bei solchen Delikten muss das Unterlassen eine vergleichbare Handlungsmodalität aufweisen, um den Tatbestand zu erfüllen. Es muss mithin gesondert festgestellt werden, dass das Unterlassen der besonderen Handlungsweise durch aktives Tun gleichsteht.

Im Gegensatz dazu spielt die Entsprechungsklausel bei verhaltensneutralen Erfolgsdelikten, die keine spezifische Handlungsweise voraussetzen (z. B. Totschlag gemäß § 212 StGB), keine besondere Rolle, da hier bereits die Garantenstellung die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen begründet.

Vernetztes Lernen

Der Unterschied von verhaltensgebundenen und verhaltensneutralen Delikten spielt etwa auch im Rahmen der actio libera in causa eine gewichtige Rolle. Den genauen Unterschied von verhaltensgebundenen und verhaltensneutralen Delikten kannst du dir im Grundlagenartikel durchlesen, den Unterschied im Rahmen der actio libera in causa hier.

Beispiel

Ladendetektiv L sieht, wie sich sein Nachbar N verdächtig verhält und sich kurz darauf eine Flasche teures Olivenöl in die Tasche steckt und den Kassenbereich passiert. Er schritt nicht ein, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte. Strafbarkeit des L gemäß § 242 I, 13 I StGB?

In diesem Beispiel ist zunächst der Streit zu führen, ob L neben dem Aktivtäter N überhaupt Unterlassungstäter sein kann oder ob es sich im Zweifel um eine Beihilfe durch Unterlassen handelt. Insofern eine Täterqualität bejaht wird, ist sodann zu fragen, ob das Unterlassen neben dem tatbestandlich geforderten, aktiven Gewahrsamsbruch des N überhaupt einem aktiven Gewahrsamsbruch gleichsteht. Das wird in aller Regel zu verneinen sein, da sich die durch § 13 I StGB geforderte, besondere Handlungsweise (Diebstahl durch Gewahrsamsbruch) nicht in einem schlichten Unterlassen widerspiegelt (Diebstahl = verhaltensgebundenes Erfolgsdelikt).

VI. Hypothetische Kausalität

Bei den unechten Unterlassungsdelikten muss eine besondere Variante der Kausalität beachtet werden. Hier wird die sogenannte hypothetische Kausalität geprüft. Das liegt daran, dass bei Vorliegen eines Unterlassens die Nichtvornahme der gebotenen und für den Täter real möglichen Handlung kausal für den Erfolgseintritt sein muss.

Definition

Die hypothetische Kausalität liegt vor, wenn die gebotene und für den Täter real mögliche Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.

Vernetztes Lernen

Den Übersichtsartikel zur Kausalität mit den verschiedenen Varianten der Kausalität findest du hier.

VII. Objektive Zurechnung

Im Rahmen der objektiven Zurechnung sind bei vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikten keine Besonderheiten zu beachten. Hier muss nach einschlägigen Fallgruppen geprüft werden, die die objektive Zurechnung ausschließen.

Im Rahmen des fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikts ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang bei hypothetisch rechtmäßigem Alternativverhalten von entscheidender Bedeutung (siehe weiter oben zur Ingerenz und zur Abgrenzung von fahrlässigem aktivem Tun und fahrlässigem Unterlassen).

VIII. Subjektiver Tatbestand

Im Rahmen des subjektiven Tatbestands muss festgestellt werden, dass der Unterlassungstäter Vorsatz hinsichtlich aller Prüfungspunkte des objektiven Tatbestands hatte. Der Täter muss folglich auch Vorsatz hinsichtlich seiner Garantenstellung haben.

IX. Pflichtenkollision als spezieller Rechtfertigungsgrund bei unechten Unterlassen

Bei fahrlässigen oder vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikten stellt die Pflichtenkollision einen speziellen Rechtfertigungsgrund bei unechten Unterlassungsdelikten dar. Eine Pflichtenkollision liegt vor, wenn eine Person zwei gleichwertige Handlungspflichten gleichzeitig erfüllen müsste, dies jedoch tatsächlich unmöglich ist. In solchen Fällen kann der Garant eine der Pflichten erfüllen, ohne für die Nichterfüllung der anderen zur Verantwortung gezogen zu werden. Entscheidend ist, dass die Nichterfüllung der anderen Pflicht nicht vermeidbar ist und der Garant in Kenntnis der Pflichtenkollision handelt.

Allerdings ist dieser Rechtfertigungsgrund mit Vorsicht zu genießen, da er streng angewendet wird, weil er eine Ausnahme zur Pflicht des Garanten darstellt, alle ihm obliegenden Schutz- und Rettungspflichten zu erfüllen. Daher ist das folgende Schema stets zu beachten und Punkt für Punkt durchzuprüfen

Web App FeatureUnsere Grafiken sind nur in der Web App verfügbar.
Platzhalter Grafik

Beispiel

Feuerwehrmann F befindet sich im Einsatz bei einem Wohnungsbrand. Er hat bereits mehrere Personen aus dem Gebäude gerettet. Zwei letzte Personen, die P und der O schreien um Hilfe. Das Feuer ist aber bereits stark fortgeschritten und F erkennt, dass entweder P oder O sicher sterben werden, da er nur eine Person zur gleichen Zeit retten kann. Er entscheidet sich kurzerhand zur Rettung des O, P stirbt. Strafbarkeit des F nach §§ 222, 13 I StGB?

Im obigen Beispiel bestehen zwei gleichwertige Garantenpflichten, nämlich das Leben der P und das Leben des O. Weil das Feuer bereits weit fortgeschritten ist und F nur eine Person zur selben Zeit retten kann, ist es F nunmehr unmöglich, beide Pflichten gleichzeitig zu erfüllen. Indem F den O rettet, die P aber nicht, erfüllt er auch eine Garantenpflicht auf Kosten der anderen.

Zusätzlich muss noch ein subjektives Rechtfertigungselement hinzukommen. Der Täter braucht zusätzlich zur Kenntnis der Kollisionslage auch noch Rettungswille. Er muss sich in einem inneren Widerspruch befinden, weil er grundsätzlich zur Rettung beider Rechtsgüter gewillt ist.

Beispiel

Feuerwehrmann F befindet sich im Einsatz bei einem Wohnungsbrand. Er hat bereits mehrere Personen aus dem Gebäude gerettet. Zwei letzte Personen, die P und der O schreien um Hilfe. Das Feuer ist aber bereits stark fortgeschritten, was F aber nicht erkennt. Er erkennt daher auch nicht, dass er nur entweder P oder O retten kann und einer von beiden sicher sterben wird, da er nur eine Person zur gleichen Zeit retten kann. Er entscheidet sich gegen die Rettung der P, obwohl er glaubt, beide Personen retten zu können, weil P ihn bereits mehrfach wegen Falschparkens in der Nachbarschaft genervt hat.

In diesem Beispiel hat F zum einen keine Kenntnis von der Kollisionslage, da er davon ausgeht, beide (P und O) rechtzeitig retten zu können. Zum anderen hatte F auch keinen Rettungswillen hinsichtlich beider Rechtsgüter, da er die P aus persönlichen Gründen gar nicht retten will.

Vernetztes Lernen

Fehlt bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision der Rettungswille, wird der Streit um die Rechtsfolgen bei fehlendem subjektivem Rechtfertigungselement relevant. Den Streit kannst du dir hier durchlesen.

Merke

Eine rechtfertigende Pflichtenkollision kann sich auch ergeben, wenn zwei ungleichwertige Handlungspflichten aus Garantenstellung bestehen. Resultieren aus einer Garantenstellung mehrere verschiedene Garantenpflichten, muss darauf geachtet werden, dass der Garant die höherrangige Pflicht auf Kosten der niederrangigen Pflicht erfüllt. So geht etwa die Rettung von Menschenleben der Rettung von Sachgütern vor.

X. Versuchtes Unterlassungsdelikt

Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt kann darüber hinaus mit dem Versuch kombiniert werden. Bleibt entweder der tatbestandliche Erfolg aus oder scheitert die Prüfung an einem anderen objektiven Tatbestandsmerkmal, hat der Täter aber Tatentschluss hinsichtlich des objektiven Tatbestands, kommt eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht. Sodann setzt sich das Schema des Versuchten vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt aus den ModulenSchema Versuch” und “Schema vorsätzliches unechtes Unterlassungsdelikt” zusammen. Die Prüfung des objektiven Tatbestandes des unechten Unterlassungsdelikts wird in die Prüfung des Tatentschluss eingezogen.

Beispiel

Feuerwehrmann F befindet sich im Einsatz bei einem Wohnungsbrand. Er hat bereits mehrere Personen aus dem Gebäude gerettet. Eine letzte Person P schreit um Hilfe, ist aber in einem Teil des Gebäudes eingeschlossen, der stark einsturzgefährdet ist. Um die Person zu retten, müsste F das Risiko eingehen, selbst verschüttet oder tödlich verletzt zu werden. F erkennt dies jedoch nicht, er geht davon aus, dass er P noch retten könnte. F weiß, dass P sicher sterben wird, wenn er sie nicht rettet, entscheidet sich aber gegen die Rettung der P, weil diese ihn bereits mehrfach wegen Falschparkens in der Nachbarschaft genervt hat. P stirbt.

In diesem Beispiel scheitert eine Strafbarkeit aus vollendetem vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt (§§ 212 I, 13 I StGB), obwohl der Erfolg eingetreten ist. Die von F vorzunehmende Erfolgsabwendungshandlung war objektiv nicht mehr geboten, da wegen der starken Einsturzgefährdung das Risiko des F, beim Rettungsversuch selbst zu sterben, viel zu hoch war. Aus der subjektiven Sicht des F war die Erfolgsabwendungshandlung allerdings geboten, weil dieser das Risiko nicht erkannte und davon ausging, die P retten zu können. Er nahm die Rettung nur deshalb nicht vor, weil ihn die P in der Vergangenheit wegen Falschparkens in der Nachbarschaft genervt hatte. Folglich hatte F Tatentschluss hinsichtlich der Unterlassung der zur Erfolgsabwendung objektiv gebotenen und dem Täter real möglichen Handlung, sodass F gemäß §§ 212 I, 22, 23 I, 13 I StGB wegen versuchten Totschlags (wenn nicht wegen versuchten Mordes) durch Unterlassen strafbar ist.

Flag
Flag
Background lines

Bereit, Jura digital zu lernen?

Mach dir dein eigenes Bild unseres Digitalen Compagnons und erlebe, mit wie viel Freude man Jura im Jahr 2025 lernen kann.

Kostenlos ausprobieren

Ohne Zahlungsdaten