Dieser Artikel behandelt das Problem der Actio libera in causa. Die actio libera in causa beschäftigt sich mit der Frage der Strafbarkeit bei Schuldunfähigkeit. Sie ist daher systematisch zuerst im Prüfungspunkt der Schuldhaftigkeit der Tat einzuordnen.
I. Die vorsätzliche actio libera in causa
Nicht nur bei den alkoholbedingten Schuldunfähigkeits-Fällen ist die actio libera in causa (alic) von besonderer Bedeutung, auch bei anderweitigen drogenbedingten Intoxikationen kann die Alic relevant werden. Im Folgenden wird jedoch vom Musterfall der alkoholbedingten Schuldunfähigkeit ausgegangen. “Actio libera in causa” ist mit “freie Handlung in der Ursache” zu übersetzen. Die Alic will als eine Art Hilfskonstruktion eine Strafbarkeit des Täters dadurch erreichen, dass sie die Schuldfähigkeit des Täters schon auf das Sichbetrinken erstreckt. Der Vorwurf besteht darin, dass sich der Täter frei dazu entschlossen hat, sich in den Zustand der Schuldunfähigkeit zu begeben, um sich einer Strafbarkeit wegen einer hieran unmittelbar anknüpfenden tatbestandsmäßigen Handlung zu entziehen.
Das bedeutet, dass der Täter ähnlich wie im Rahmen der Anstiftung oder der Beihilfe einen doppelten Vorsatz aufweisen muss. Einerseits muss sich der Täter vorsätzlich betrinken und andererseits schon im Zeitpunkt des Sichbetrinkens Vorsatz hinsichtlich der später begangenen Tat aufweisen. Fraglich ist jedoch, wie dieser doppelte Vorsatz zur Überwindung der Schuldunfähigkeit im Zeitpunkt der konkreten Tathandlung herangezogen werden kann.
Definition
Actio libera in Causa
Die vorsätzliche actio libera in causa meint, dass der Täter bereits im nüchternen Zustand Vorsatz sowohl auf die Herbeiführung der Schuldunfähigkeit durch das Sichbetrinken hatte, als auch auf die konkrete tatbestandsmäßige Handlung im Zustand der Schuldunfähigkeit und den Eintritt des Erfolges.
Beispiel
T will den O töten, mit dem er schon lange um die Gunst der F konkurriert. T will sich Mut antrinken und leert zu Hause vier Wodka-Flaschen. Er kommt auf einen Promillewert von 3,3. In diesem Zustand begibt er sich - wie geplant - zu O und tötet ihn mit einem Vorschlaghammer.
In diesem Beispiel hat T Vorsatz in Bezug auf das Sichbetrinken und schon im Zeitpunkt des Sichbetrinkens Vorsatz hinsichtlich der Tötung des O. Anders läge der Fall, wenn T aus Frust anfängt, sich zu betrinken und erst im Zustand der Schuldunfähigkeit den Entschluss fasst, den O zu töten.
Liegt der doppelte Alic-Vorsatz vor, schließt sich die Überlegung an, dass ein Täter, der die Schuldunfähigkeits-Regelung aktiv ausnutzt, nicht davon profitieren können soll, dass er die eigentliche Handlung im Zustand der Schuldunfähigkeit begeht. Die Schuldunfähigkeit soll also im Einzelfall überwunden werden.
1. Dogmatische Begründung
Dogmatisch kann man die Alic wie folgt begründen.
a) Schuldmodell
Das Schuldmodell will den Zeitpunkt der Schuldfähigkeit im Sinne des § 20 StGB auf den Moment erstrecken, in dem der Täter den doppelten Vorsatz aufweist und beginnt, sich zu betrinken. Dabei werden die Ausnahmetheorie und die Ausdehnungstheorie als Begründung angeführt.
Problem
Alic als Schuldmodell
Die Ausnahmetheorie will die Alic als gewohnheitsrechtliche Ausnahme zum Koinzidenzprinzip (= Schuldfähigkeit muss gemäß § 20 StGB bei Begehung der Tat vorliegen) begreifen.
Diese Meinung kann jedoch nicht überzeugen, weil die ungeschriebene gewohnheitsrechtliche Ausnahme gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 II GG verstößt.
Die Ausdehnungstheorie will das Koinzidentsprinzip ausdehnen. “Bei Begehung der Tat” soll schon der Zeitpunkt des Sichbetrinkens sein. Das bedeutet nicht, dass die Tathandlung im Zeitpunkt des Sichbetrinkens beginnt. Vielmehr ist der Zeitpunkt des Sichbetrinkens ausschließlich relevant für die Feststellung der Schuldfähigkeit.
Diese Meinung verstößt jedoch klar gegen den Wortlaut des § 8 StGB, der den Tatzeitpunkt als Vornahme der strafrechtlich relevanten Handlung bestimmt. “Bei Begehung der Tat” kann folglich nur die Vornahme der Handlung bedeuten. Zum Zeitpunkt der konkreten Tathandlung handelt der Täter jedoch noch immer schuldunfähig, sodass die Schuldunfähigkeit nur unter Verstoß gegen § 8 StGB und das Koinzidentsprinzip überwunden werden kann, was einen Verfassungsbruch darstellt.
b) Tatbestandsmodell
Nach Ablehnung der Alic als Schuldmodell kommt nur noch die Alic als Tatbestandsmodell in Frage. Das Tatbestandsmodell will nicht die Schuldfähigkeit ausdehnen oder gar eine Ausnahme vornehmen, sondern die strafbare Handlung schon im Sichbetrinken sehen. Dabei werden die Vorverlagerungstheorie und die Werkzeugtheorie als Begründung angeführt.
Problem
Alic als Tatbestandsmodell
Die Vorverlagerungstheorie will den Beginn der Tatbestandsverwirklichung auf das Sichbetrinken vorverlagern. Der Beginn der tatbestandsmäßigen Handlung ist also nicht durch den Schlag mit dem Vorschlaghammer definiert, sondern durch das tatplanmäßige Sichbetrinken.
Diese Theorie ist aber mehreren Kritikpunkten ausgesetzt. Zum einen ist die tatbestandsmäßige Handlung bei verhaltensgebundenen Delikten konkret normiert, sodass die Vorverlagerungstheorie hier keine Anwendung finden kann. Beispielhaft sei hier § 241 StGB angeführt, der klar den kommunikativen Akt der Bedrohung unter Strafe stellt und nicht das Sichbetrinken. Doch auch bei verhaltensneutralen Delikten, wie dem Totschlag § 212 I StGB ergeben sich Kritikpunkte. So wird etwa der Versuchsbeginn auf eine typische Vorbereitungshandlung unzulässig ausgedehnt.
Die Werkzeugtheorie will eine Strukturverwandtschaft zur mittelbaren Täterschaft sehen, weil der Täter sich selbst als Tatwerkzeug benutzt. Der Täter weist im späteren Verlauf einen Defekt auf, indem er als schuldloses Werkzeug handele.
Diese Ansicht verstößt jedoch gegen den Wortlaut des § 25 I Alt. 2 StGB, der klar vorschreibt, dass die Tat “durch einen anderen” begangen werden muss. Der Täter kann kein anderer in diesem Sinne sein.
Vernetztes Lernen
Die mittelbare Täterschaft und ihre Voraussetzungen kannst du dir in diesem Artikel durchlesen.
c) Klausurvorgehen
Die Rechtsprechung hält in Fällen des verhaltensneutralen vorsätzlichen Erfolgsdelikts zwar weiter an der Alic fest, in der h.L. wird sie jedoch abgelehnt.
Klausurtipp
In der Klausur solltest du eine Strafbarkeit aus Alic ablehnen. Das bedeutet, dass die Alic zunächst als Schuldmodell im Rahmen der Schuldhaftigkeit der Tat geprüft werden muss. Die Alic als Schuldmodell muss sodann mit der oben dargestellten Argumentation abgelehnt werden. Erst danach wird die Alic im Tatbestandsmodell angesprochen, aber ebenfalls abgelehnt. Nachfolgender Aufbau dient der Verständlichmachung des Vorgehens.

II. Alic und Fahrlässigkeit
Häufig sind die Fälle jedoch so gestrickt, dass eine Bestrafung aus Fahrlässigkeitsdelikt in Frage kommt. Eine Alic ist bei Fahrlässigkeitsdelikten nicht notwendig, da die fahrlässige Handlung jedes pflichtwidrige Verhalten sein kann. Weiß der Täter etwa, dass er unter Alkoholeinfluss zur Gewalt neigt, kann sich hieraus das pflichtwidrige Verhalten ergeben.
Beispiel
T konkurriert mit O um die Gunst der F. T ist in der Vergangenheit bereits durch Schlägereien im alkoholisierten Zustand straffällig geworden. Nach einem Streitgespräch mit O auf einer Party der F, betrinkt sich T bis zum Zustand der Schuldunfähigkeit. In diesem Zustand geht er auf O mit einer Glasflasche los und tötet ihn.
In diesem Beispiel kommt eine Strafbarkeit wegen § 222 StGB in Betracht, wobei das pflichtwidrige Verhalten nicht das Töten des O im Zustand der Schuldunfähigkeit ist, sondern das Sichbetrinken in Kenntnis seiner Gewaltgeneigtheit unter Alkoholeinfluss.
III. Alic und in dubio pro reo
Eine weitere Besonderheit sind die “in dubio pro reo - Fälle”. Der Grundsatz in dubio pro reo, der seinen Ursprung bereits im alten römischen Recht hat, kann übersetzt werden mit “im Zweifel für den Angeklagten". Er ist ein fundamentaler Rechtsgrundsatz im Strafrecht. Er besagt, dass im Falle von nicht auflösbaren Zweifeln an der Schuld eines Angeklagten dieser zugunsten des Angeklagten gewertet werden müssen. Dieser Grundsatz kann aber zu ungewöhnlichen Ergebnissen in einer Examensklausur führen, weil von mehreren möglichen Sachverhaltsalternativen stets die für den Täter günstigere anzunehmen ist.
Beispiel
T betrinkt sich auf der Party der F maßlos. Er steigt alkoholisiert ins Auto und fährt nach Hause. Der O verpetzt den T am frühen Morgen auf seinem Heimweg bei einer vorbeifahrenden Streife. Ein Bluttest ergibt, dass der T bei seiner Heimfahrt in der Nacht einen BAK zwischen 1,5 und 3,4 ‰ gehabt haben kann.
In diesem Beispiel scheitert eine Strafbarkeit wegen Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB daran, dass in dubio pro reo eine Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB angenommen werden muss, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass T eine BAK von 3,4 ‰ hatte.
Eine Strafbarkeit gemäß § 323a StGB scheitert auf der anderen Seite daran, dass in dubio pro reo davon ausgegangen werden muss, dass T nur eine BAK von 1,5 ‰ hatte, folglich den sicheren Bereich des § 21 StGB nicht erreichte und kein Rausch vorliegt.
T bleibt straffrei. In Frage kommt hier lediglich eine Wahlfeststellung. Die Wahlfeststellung wird in diesem Artikel gesondert behandelt.
Merke
Eine actio libera in causa soll die alkoholbedingte Schuldunfähigkeit überwinden. Dieses Rechtsinstitut braucht es bei fahrlässigen Delikten nicht, weil hier jedes pflichtwidrige Vorverhalten - also auch das Sichbetrinken - Anknüpfungspunkt sein kann. Der in dubio pro reo Grundsatz kann dazu führen, dass die Alic gar nicht ausgeführt werden muss, wenn der sichere Bereich des § 20 StGB wegen mehrerer Sachverhaltsalternativen nicht klar erreicht wird.