Dieser Artikel behandelt die Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB. § 193 StGB besitzt hohe Examensrelevanz. Ehrdelikte im Allgemeinen sind vielfach Examensstoff und bieten sich für einen eigenen Tatkomplex an. § 193 StGB ist als ehrdeliktsspezifischer Rechtfertigungsgrund von besonderer Bedeutung! Aufgrund einiger Parallelen und Überschneidungen sollten die Artikel zu
zuerst gelesen werden.
I. Allgemeines
§ 192 StGB steht wie alle Ehrdelikte im 14. Abschnitt “Beleidigung” des StGB. Er gliedert sich an die grundlegenden Ehrdelikte (§§ 185–192 StGB) an und regelt besondere rechtfertigende Gründe für die Ehrdelikte.
1. Prüfungsschema

II. Anwendungsbereich
Der Anwendungsbereich erstreckt sich trotz seiner systematischen Stellung nur auf § 185 und § 186 StGB. Eine Rechtfertigung wegen Wahrnehmung berechtigter Interessen ist hinsichtlich der Straftatbestände “Verunglimpfung Verstorbener”, § 189 StGB und “Verleumdung”, § 187 StGB, bei der der Täter die Unwahrheit wider besseres Wissen behauptet oder verbreitet, nicht möglich.
Merke
Es gibt also auch durch § 193 StGB kein Recht zur bewussten Lüge!
Ebenso können n.h.M. tätliche Beleidigungen nach § 185 Alt. 2 StGB nicht durch § 193 gerechtfertigt werden!
III. Berechtigtes Interesse
Zunächst muss der Täter ein berechtigtes Interesse verfolgt haben.
Definition
Interesse i.S.d. § 193 StGB meint jeden rechtlich schutzwürdigen öffentlichen, privaten, ideellen oder vermögensrechtlichen Zweck.
Definition
Das Interesse ist dann berechtigt, wenn die Äußerung geeignet, erforderlich und angemessen ist, um das verfolgte, rechtlich schutzwürdige Anliegen zu fördern.
Hauptfälle des berechtigten Interesses sind vor allem die Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 Hs. 1 GG) und die Pressefreiheit (Art. 5 I 2 GG).
Beispiel
Meinungsfreiheit:
Geschützt sind insbesondere subjektive Stellungnahmen, Einschätzungen und Bewertungen in politischen, gesellschaftlichen oder privaten Zusammenhängen.
Beispiel
Pressefreiheit: Umfasst das Recht der Presse, über gesellschaftlich relevante Vorgänge zu informieren.
IV. Verhältnismäßigkeit
Darüber hinaus muss der Täter dieses berechtigte Interesse auch in rechtfertigender Art und Weise wahrgenommen haben. D.h. die ehrenrührige Tatsache beziehungsweise das beleidigende Werturteil muss geeignet, erforderlich und angemessen sein.
1. Geeignetheit
Definition
Eine Äußerung ist geeignet, wenn sie objektiv dazu beiträgt, das verfolgte Interesse zu fördern oder zu schützen.
Beispiel
Ein Lokalblog veröffentlicht einen Artikel mit der Überschrift:
„Steckt Herr L. hinter den Einbrüchen im Viertel?“, ohne dass es konkrete Anhaltspunkte für dessen Beteiligung gibt.
→ Nicht geeignet, da völlig spekulativ. Die Äußerung fördert kein berechtigtes öffentliches Aufklärungsinteresse, sondern schürt lediglich unbegründeten Verdacht. Daher liegt eine rechtswidrige Verdachtsberichterstattung vor.
2. Erforderlichkeit
Definition
Die Äußerung muss das mildeste unter gleich wirksamen Mitteln sein.
Beispiel
Ein Online-Magazin berichtet über staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen eine Ärztin wegen Abrechnungsbetrugs. Statt neutral über das Verfahren zu berichten, wird sie mit vollem Namen, Foto und Praxisadresse abgebildet.
→ Nicht erforderlich, da eine anonymisierte oder sachlich zurückhaltendere Darstellung ausgereicht hätte, um das Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu wahren.
3. Angemessenheit
Definition
Die Wahrnehmung des berechtigten Interesses war angemessen, wenn im Rahmen einer Güter- und Interessenabwägung das Gewicht des berechtigten Interesses, die Schwere des Eingriffs und das Persönlichkeitsrecht des Verletzten überwiegt.
Beispiel
Eine Boulevardzeitung veröffentlicht auf der Titelseite groß ein unscharfes Fahndungsfoto mit dem Text:
„Dieser Mann soll ein Kind missbraucht haben“ – obwohl das Ermittlungsverfahren gerade erst begonnen hat und der Betroffene weder vorbestraft noch konkret belastet ist.
→ Nicht angemessen, da der massive Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen (soziale Vorverurteilung) außer Verhältnis zum öffentlichen Informationsinteresse steht.
4. Sonderfall: Schmähkritik
Besonders problematisch und abwägungsbedürftig sind die Fälle, in denen es sich um eine Schmähkritik handelt.
Merke
Schmähkritik liegt vor, wenn eine Äußerung nicht mehr der Auseinandersetzung in der Sache dient, sondern ausschließlich die Diffamierung und Herabwürdigung der betroffenen Person bezweckt.
Das bedeutet, dass der sachliche Gehalt vollständig hinter die persönliche Kränkung zurücktritt, sodass die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG zurücktreten muss.
Paradebeispiel hierfür ist das Schmähgedicht des Satirikers Jan Böhmermann in der TV-Sendung ZDF Neo Magazin Royal.
Beispiel
Im Jahr 2016 kritisierte die Satiresendung Extra3 der ARD die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei. Daraufhin wurde seitens der türkischen Regierung wiederholt diplomatischer Protest eingelegt. In Reaktion auf diese politischen Spannungen verlas der deutsche Satiriker Jan Böhmermann (B) in seiner Fernsehsendung ZDF Magazin Royal ein satirisches Gedicht, in dem er die Person des türkischen Präsidenten unter anderem mit vulgären sexuellen Inhalten in Verbindung brachte.
So wird der türkische Präsident als „sackdoof, feige und verklemmt“ (Vers 1) bezeichnet; er habe ein „schlimm nach Döner“ riechendes „Gelöt“ (Vers 3), das sogar einen „Schweinefurz“ (Vers 4) in seinem Geruch übertreffe.
Begleitend äußerte der Satiriker mehrfach, dass es sich hierbei um ein Beispiel für unzulässige Schmähkritik handle – also um eine bewusst überzogene Form der Herabwürdigung, die nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Der türkische Präsident stellte daraufhin Strafanzeige gemäß den §§ 103, 185 StGB (damalige Rechtslage).
Im obigen Beispiel wäre im Rahmen des § 193 StGB eine Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des türkischen Präsidenten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und der Meinungs- sowie Kunstfreiheit des Herrn Jan Böhmermann (Art. 5 GG) vorzunehmen.
In einem zivilrechtlichen Verfahren hatte die Rechtsprechung einzelne Passagen des Gedichts wegen ihrer schlicht diffamierenden Wirkung für rechtswidrig erklärt. Strafrechtlich blieb das Gedicht hingegen folgenlos, da die Staatsanwaltschaft Mainz mangels Vorsatzes keine Anklage erhob.
Klausurtipp
In der Klausur kannst du mit guter Argumentation auch eine Strafbarkeit annehmen, weil es sich trotz des Formats der Satiresendung um eine schlicht herabwürdigende und diffamierende Beleidigung handelt, die nicht mehr unter die Meinungsfreiheit oder Kunstfreiheit fällt und daher nicht gem. § 193 StGB gerechtfertigt ist.
V. Subjektives Rechtfertigungselement
Wie jeder Rechtfertigungsgrund muss zudem noch das subjektive Rechtfertigungselement vorliegen. Die Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements, auch i.R.d. § 193 StGB, ergibt sich schon aus dessen Wortlaut: Der Täter muss “(…) zur Wahrnehmung berechtigter Interessen (…)” gehandelt haben. Das Wort “zur” macht deutlich, dass der Täter gerade in der Absicht der Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt haben muss.
Vernetztes Lernen
Vergleichbar ist der Begriff “zur” hier mit “um (…) zu”, dass ebenfalls eine besondere subjektive Komponente fordert und etwa im Wortlaut des § 259 StGB (Räuberischer Diebstahl) wiederzufinden ist:
„Wer, bei einem Diebstahl (...), gegen eine Person Gewalt verübt (...), um sich im Besitz des gestohlenen Gutes zuerhalten, (...)”
VI. Weitere Rechtfertigungsgründe
1. Ehrennotwehr
Eine Rechtfertigung durch Notwehr nach § 32 StGB kommt nur bei erheblichen Angriffen auf die Ehre in Betracht.
Vernetztes Lernen
Selbst wenn eine erhebliche Beleidigung vorliegt, wird in der Regel eine erhebliche Körperverletzung nicht gerechtfertigt werden können, da die Fallgruppe krasses Missverhältnis zwischen verteidigtem und angegriffenem Rechtsgut im Rahmen der Gebotenheit der Notwehrhandlung einschlägig ist.
2. Einwilligung
Eine rechtfertigende Einwilligung kann grundsätzlich auch zur Rechtfertigung herangezogen werden. In eine Beleidigung kann etwa auch konkludent eingewilligt werden. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn sich der Betroffene in einer Diskussion bewusst auf ein unsachliches oder aggressives Niveau begibt, selbst ähnliche Äußerungen tätigt oder durch Tonfall und Verhalten zu erkennen gibt, dass er sich gegen gleichartiges Verhalten nicht zur Wehr setzen will.